Donnerstag, 19. September 2013

Welcher nun bin ich?



Die Faszination des Unerlaubten hat mich im Griff. Was ist denn in unserer Welt verboten? So gut wie nichts. Aber diese Kapsel bedeutet Gefahr, eine schwer einzuschätzende Gefahr. Umso mehr zieht sie mich an.

Ich habe sie sogar schon benutzt. Ich bin hineingegangen, habe im Sessel Platz genommen, den Countdown abgewartet … und dann war ich in der Zukunft und habe von dort den Gentransmitter mitgebracht.

Nun wollen alle reisen wie ich. Ich aber … In meinen Träumen sehe ich mich auf der Kommandobrücke eines vorzeitlichen Schiffes, die Hand am Steuerrad. Ein Albtraum. Ich kann es nämlich nur in eine Richtung bewegen, obwohl ich weiß, es müsste sich rechts und links herum drehen lassen. Ausgerechnet in die Richtung, in die ich will, darf ich nicht. In all diesen Träumen unterwerfe ich mich und mein Schiff versinkt. Das heißt, ich spüre noch eine gewaltige Erschütterung und dann erwache ich mit Schweiß bedeckt und du bist vor so langer Zeit schon gestorben und das, verdammt, ist kein Traum! Werde ich denn nie darüber hinwegkommen?

Natürlich gehörten die Gründe für die Ablehnung einer Reise in die Vergangenheit zu meiner Ausbildung als Temp-Pilot. Nicht nur das Großvaterparadoxon. Aber schon damals drängten mich theoretisch bewiesene Unmöglichkeiten nur dazu, doch eine praktische Möglichkeit zu suchen. Verdammt, ich will nicht meine Vorfahren umbringen … ganz im Gegenteil!

Warum nur ließ ich dich damals abfliegen? Wenn ich nein gesagt hätte, du hättest auf mich gehört. Es geht nicht um mich, obwohl es auch um mich geht. Natürlich hätte ich es niemandem gegenüber eingestanden, um keinen Preis der Welt. Aber ich fühle mich schuldig. Wegen eines unausgesprochenen Satzes bist nicht nur du, sondern ist auch die keimende Frucht unserer nicht entfalteten Liebe im Nichts verloren gegangen. Und nun brülle ich morgens mit mühsam unterdrückter Stimme mein Spiegelbild an: „Nein, ich bin kein Egoist!“ Dabei kann ich nicht einmal sagen, was ich am ehesten damit meine: Dass ich dich, euch habe in den Tod gehen lassen, weil ich mich nicht von Anfang an euphorisch auf die Frucht unserer spontanen Intimität gefreut hatte, oder dass ich dich nicht längst nachträglich gerettet habe oder dass ich genau das immer wieder erwäge, obwohl ich weiß, dass das für das Leben einer unbekannten Zahl von Menschen im Jetzt eine unwägbare Gefahr sein kann. In den ersten Jahren hatte ich mich fast damit abgefunden. Schicksal. Es war ja nicht ungeschehen zu machen. Aber seit ich weiß, dass ich es vielleicht doch ungeschehen machen könnte … Inzwischen habe ich bereits das Verständnis für Vorher und Nachher, für Gut oder Böse verloren. In grauen Vorzeiten sollen die Menschen einmal gebetet haben: „... und führe uns nicht in Versuchung!“ Oh, wie gut kann ich sie verstehen, jetzt, da ich täglich gegen die Versuchung ankämpfe, mein und dein Schicksal durch eine Reise in die Vergangenheit zum Guten zu wenden. Ich kann, ich will nicht mehr!

Es ist soweit. Die Raum-Zeit-Koordinaten jenes Augenblicks, an dem ich jenes verfluchte „Aber natürlich freu ich mich mit dir; fahr nur!“ sagte, habe ich mehrmals mit verschiedenen Methoden durchgerechnet. Auch die nötige Frist, die ich in jener Zeit bleiben muss und die Koordinaten, von denen ich automatisch wieder zurückgeholt werden möchte.

Ein getränktes Tuch. Alles Andere ist wie immer. Die Identitätstests, die Tore, die Tür der Kapsel. Diesmal aber rufe ich Chris vor der Verriegelung der Kapseltür zu, mir sei was Wichtiges für sie eingefallen. Sie vertraut mir, liebt mich wahrscheinlich, obwohl ich ihre Gefühle nie erwidern könnte. Ich habe richtig spekuliert. Chris lacht, lässt mich aus der Kapsel zurückspringen, sich umarmen und küssen, und sie beachtet nicht, dass mein zweites Durchschreiten der Tür die Automatik blockiert. Genau diese Zeit brauche ich gegen die Sicherheitsroutinen. Ich greife in die Tasche und plötzlich versucht Chris mit dem Tuch vor dem Mund vergeblich, etwas zu rufen. Schon schläft sie. Bewusst habe ich bei der ganzen Aktion der Überwachungskamera den Blick auf Chris versperrt und jetzt nehme ich mir die Zeit, vermeintlich zärtlich Abschied nehmend die Frau vorsichtig in ihren Sessel zurückgleiten zu lassen und sie so zu drapieren, dass ihre geistige Abwesenheit nicht sofort ins Auge fällt. Später wird sie sich weder daran erinnern, dass sie geschlafen hat noch was davor passiert ist. Sie wird mich weder verraten wollen noch können.



Ich ersetze an ihrem Pult die Zielparameter in der Zukunft durch meine in der Vergangenheit liegenden, setze die Verweildauer auf 15 Minuten fest und aktiviere den automatischen Countdown. Zurück in der Kapsel verfolge ich äußerlich gelassen den Schließvorgang der Tür. Dann wird mir heiß, erfasst mich die fast schon gewohnte Hitze, die suggeriert, ich sei flüssiges Gestein. Es scheint alles in Ordnung. ...

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