(1)
Claudia
heulte hemmungslos. Längst war aller Zellstoff aufgebraucht. Nimm
dich endlich zusammen, meinte die eine innere Stimme - wozu denn,
antwortete die andere, es sieht ja keiner.
Aber
du musst Martin endlich antworten!
Es
hat sowieso keinen Sinn mehr.
Martin
hatte Claudia vor neun Monaten kontaktiert. Da blinzelte sie noch als
ungewöhnlich attraktive 15-Jährige in die Webcam. Mit ausgestopftem
Bikinioberteil unter dem hautengen Top. Martin fragte prompt danach
und sie verkündte stolz: „75 C ...“ Früher zumindest hieß das
so. „Gefällt´s dir?“ Was blödelten sie danach herum! Martin
war ein Glücksfall. Er sah richtig scharf aus, ein Typ, dem die
Mädchen garantiert hinterherliefen, zugleich aber wirkte er schon
bei ihrem ersten „internetten“ Aufeinandertreffen überraschend
reif trotz seiner 15. Verständig. Nicht so wie die Jungen, denen
Claudia bis dahin begegnet war. Vielleicht …
Nein,
es war besser, dass sie sich nicht wirklich nahe gekommen waren. Viel
Zeit war ihr nicht mehr geblieben. Jeden Morgen suchte sie sich
ängstlich nach Symptomen der Krankheit ab. Dann hatte sie die ersten
Zeichen entdeckt. Sie unterbrach die Bildverbindung. Irgendetwas an
dem Programm funktioniere nicht. „... Keine Ahnung was. Vielleicht
ein Problem mit unserem Netzanbieters. Reklamation ist raus … aber
ob jemand sie bearbeitet ...“ Wenn Martin sie wieder sehen könne,
wolle sie ihn auch wieder sehen.
Seitdem
chatteten sie wie in der Anfangszeit des Internets. Der eine schrieb,
verschickte seinen Text und wartete auf die Antwort des anderen. Die
Handynetze waren ja längst zusammengebrochen.
Später
dann kam es Claudia vor, als alterte sie mit jedem Tag um ein Jahr.
Sie übertrieb natürlich. Sie wäre dann ja schon 280 Jahre alt und
das hatte es selbst in den besten Zeiten nicht gegeben. Aber kam sie
sich mitunter nicht so vor?
Hätte
sie Martin nicht doch einweihen, ihm zum Beispiel damals schreiben
sollen, als sie sich das erste Mal nicht mehr die Zehennägel
lackieren konnte? Weil sie nicht mehr dort unten ankam? Vor Schmerz
hätte brüllen mögen? Bei aller Vernunft … Martin war doch nur
ein Junge … was verstand der von gesund glänzenden Nägeln und dem
Ekel, den ihre Füße jetzt bei ihr auslösten?
Immerhin
konnte sie sich mit ihm über Bücher austauschen. Er las selbst noch
richtige, verstand, was drin stand, diese Probleme von Greisen, die
viel älter geworden waren als 30 Jahre. Er hörte ihr zu, wenn sie
ihm von Sanne und Tim erzählte. Obwohl er gar keine Geschwister
hatte und seine Bekannten auch nicht. Aber er gab sich große Mühe,
ihr Tipps zu geben, worin sie die beiden unterrichten sollte und wie.
Richtig gute sogar. In der Schule wäre Martin bestimmt Spitze
gewesen und Lehrer geworden, vielleicht. Er lernte gerade Gitarre.
Das wär was für Sanne. Sanne brauchte unbedingt
Sexualkundeunterricht. Tim war zwar nur 15 Monate jünger als Sanne,
aber er zeigte glücklicherweise noch kein Interesse an solchen
Dingen. Wie sollte Claudia das alles einer Neunjährigen erklären?
Sanne sollte doch Bescheid wissen. Oder lieber noch nicht?
Sannes
Blicke waren Claudia manchmal richtig unheimlich. Eiskalt lief es ihr
den Rücken herunter. „Kann sein, die weiß schon alles. Alles,
verstehst du, Martin“, hatte sie geschrieben … „...alles …“
Darauf
war Martin nicht eingegangen.
Ach
Martin …
Es
ist bestimmt besser, dass du mich so … wieder schluchzte Claudia
auf … so sexy in Erinnerung behältst. Was ist das schon für ein
Leben? Sie trug inzwischen einen ganzen Millimeter Farbcreme auf, um
noch als Frau wahrgenommen zu werden und nicht als Greisin. Obwohl …
in den letzten Wochen war Claudia überhaupt nicht mehr draußen
gewesen. Längst erledigte Sanne alles, wozu man raus musste.
Einkaufen und so. Sanne blieb in letzter Zeit lange draußen weg.
Wenn Claudia fragte, wie sie zum Beispiel zu dem frischen Gemüse
gekommen war, lächelte sie nur still wissend in sich hinein. Wie
viel wusste sie vom Leben? Zu viel, bestimmt zu viel!
War
das seltsam. Nicht einmal erwähnte Martin ihr gegenüber die
Krankheit. Obwohl es doch nichts Wichtigeres gab auf der Welt. Alle
redeten von ihr. Ahnte er, warum auch sie das Thema umging?
Ganz
plötzlich wurde es Claudia bewusst. Martin war doch im selben Alter.
Vielleicht klemmte, seit sie sich nur noch schriftlich verständigten,
ein Foto von ihr an seinem Monitor. ...
...
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