Donnerstag, 19. September 2013

Die schwebende Jungfrau



Ein Mann Anfang 40 betrat den virtuellen Saal mit militärisch festem Schritt. Er trug die Offiziersuniform der Raumflotte, hatte allerdings die Rangabzeichen verdeckt. Etwa in der Mitte des freien Platzes zwischen der erhöht sitzenden Jury und den Zuschauern blieb er stehen und salutierte in Richtung der Vorsitzenden Richterin. Dass der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt war, richtiger, dass mehrere Hunderttausend Zuschauer meinten, einen der 400 Sitze zu belegen, schien ihn nicht zu berühren. Am wenigsten, dass eine Mehrheit dieser Zuschauer Frauen waren, die sich hauptsächlich in die öffentliche Anhörung eingeschaltet hatten, um ihn zu sehen.


„Flottenkapitän Klasse A in Prüfung Rainer Schade, geboren 14.10.315, zur Stelle.“


Es folgte die Vorstellung der neun Jurymitglieder, an deren Plätzen jeweils ein deutlich lesbares Namensschild aufgestellt war.


Diese Bilder sahen die Zuschauer an ihren heimischen Computern alle fast gleich, nur variiert durch die Perspektive des Platzes, den der Hauptcomputer der Konferenzübertragung ihnen zugeordnet hatte. Logischerweise sahen sich die Mitglieder der Jury und der Kapitän an den ihnen zugeteilten Plätzen, der Kapitän hatte den Eindruck, in den Raum hineinzugehen.


Zu aller Überraschung hob der Kapitän bereits bei der Verlesung der Vorwürfe gegen seine Person die linke Hand. Mit Erfolg. Die Richterin unterbrach ihren Satz und fragte irritiert: „Missfällt Ihnen die Geschäftsordnung, Kapitän Schade?“


„So könnte man es ausdrücken. Obwohl ich nichts gegen Formalien haben darf, sie sichern, dass jeder weiß, was er wann wie zu tun hat, sollten wir uns gegenseitig nicht die Zeit stehlen. Also ich bekenne mich schuldig im Sinne der Anklage, die Ereignisse um die „Kap der Guten Hoffnung“ verschuldet zu haben. Ich trage aber eine Schuld, die weit über die grundsätzliche Verantwortung eines Kapitäns hinausgeht und die durch meine Mannschaft nicht getragen, ja, nicht einmal geahnt werden konnte. Ich bitte darum, entgegen den Regeln des Protokolls meine Sicht zu den Ereignissen als Beitrag zur Anklage darlegen zu dürfen, und zwar möglichst ohne Zwischenfragen, auch wenn manche Details für Sie vielleicht keinen Zusammenhang mit der Katastrophe zu haben scheinen. Ich beantrage also, die Vorwürfe, mein Verhalten betreffend, diesen Ausführungen entsprechend zu erweitern.“


Die Vorsitzende Richterin lächelte: „Kapitän Schade, Sie wissen selbst, dass es sich hier um keine formelle Anklage handelt, sondern um eine Vorklärung, inwieweit durch Beteiligte bewusst schuldhaftes Fehlverhalten vorliegen könnte. Wir sind also noch nicht an ein Protokoll gebunden. Dies also fürs Protokoll.“


Der Hauptcomputer generierte Gelächter im Publikum. Die meisten Zuschauer fanden die Form der Zurechtweisung passend.


„Entschuldigung. Aber ich möchte endlich beginnen dürfen. Ich habe lange nachgedacht. Sicher bin ich mir in manchen Fragen nicht. Bei anderen wiederum besteht kein Zweifel. Zum Beispiel, dass ich zum Führen eines A-Klasse-Raumschiffs nicht ausreichend geeignet bin. Ich kann hier nichts mehr gewinnen. Also darf ich ...?“


Das Nicken der Vorsitzenden Richterin wirkte ungewöhnlich wohlwollend. 


„Danke. 





Es gibt zwei Möglichkeiten, wie ich anfangen könnte. Mit jenem Ereignis während der Kadettenausbildung, das so wichtig für das Folgende ist, obwohl Sie überhaupt nicht darauf einzugehen gedachten, oder dem Moment, an dem ich erstmals die Mannschaftsliste für dieses, mein erstes A-Klassen-Kommando in den Händen hielt. In gewisser Hinsicht läuft es auf eins hinaus. Schließlich fiel mir auf der Liste sofort der Name Mara Hattweiler auf. So oft gibt es den schließlich nicht, in der Raumflotte schon gar nicht. Ich musste mich also an unsere Begegnung von damals erinnern und habe es auch getan. Nicht, dass ich da die Verantwortung hätte wegschieben sollen, aber hätte ich in dem Augenblick jemanden ins Vertrauen gezogen, wären wir vielleicht gemeinsam zu einer ungefährlichen Lösung gekommen. Schließlich war ich in diesem Moment noch der Einzige, der über das notwendige Wissen verfügte. Verstehen Sie: Als ich nach dieser Zirkusvorführung damals so oft antwortete „Ich weiß nicht.“, da wusste ich ja wirklich nicht, wie die Leistung zustande gekommen war. Es machte mir aber Spaß, dass die anderen mir natürlich nicht glaubten und bei allem Spott das Ganze für Geheimniskrämerei hielten, die eben dazugehörte. ...

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