Donnerstag, 19. September 2013

Fillip der Erdling



Es war Mittwoch, der 23. Oktober, 8.24 Uhr. 

Fillip saß auf der Toilette und schlug die Tageszeitung auf. Das war einer der schönsten Augenblicke jedes Tages. Max und Jule saßen im Bus in Richtung Schule in der Kleinstadt, Gabi im Auto nach Berlin, um das Geld der Familie bei ihrer Versicherung zu verdienen. Also natürlich nicht bei ihrer, sondern bei der, bei der sie arbeitete, jener nicht nur aus der Werbung bekannten. Fillip war stets bemüht, den Namen nicht zu nennen. Dann kämen diese wissenden Blicke: Versicherung, na ja … und dann noch die …

Jetzt aber lag der Morgenstress hinter ihm und jeder denkbare Tagesstress noch in der Ferne. An alle waren Küsschen verteilt, den Kindern war ein ausgewogenes zweites Frühstück eingepackt und, ja, er hatte aufgepasst, dass jeder wie immer seine wichtige erste Mahlzeit des Tages im Kreise der unaufgeregten Familie einnahm, Jule hate er noch einmal bestärkt, dass bei der Mathearbeit überhaupt nichts passieren könne, weil sie ja gelernt habe und er kontrolliert habe, dass sie den geforderten Stoff beherrsche. Schließlich hatte er hinter dem abgefahrenen Opel das Hoftor geschlossen, die Zeitung gegriffen und …

Na, jedenfalls saß er nun entspannt auf der Brille und stellte fest, dass man ihm die Wahl laß, sich entweder zu ärgern oder zu gruseln: Ein furchtbarer Tornado sei über Wisconsin hinweggeweht. Mehrere Orte seien zerstört, bisher 78 Tote geborgen worden. Dazu ein Foto von etwas Verwüstetem.

Fillip wollte sich nicht ärgern und sich gruseln auch nicht. Wisconsin war schließlich in den USA und dort gab es eine Jahreszeit mit vielen Tornados. Die kamen aus der Karibik und … Lag Wisconsin eigentlich an der Küste? Und gehörte der Oktober zur Tornadozeit? Fillip legte die Zeitung auf die Waschmaschine. Die erhoffte totale Entspannung wollte sich an diesem Morgen einfach nicht einstellen. Vielleicht hätte er nur den Sportteil aufschlagen sollen. Ob nun Hertha oder Union oder dieses Türkiyedingsbums nicht gewonnen hätte, ,,, Es hätte ihn alles nicht berührt. Nun war aufzuräumen und dann …




Immer noch Mittwoch, 23. Oktober, inzwischen 10.12 Uhr. 

Das Haus war bereit, eventuelle Gäste zu empfangen. Es würden zwar keine kommen, denn wer wollte ausgerechnet Ende Oktober und mitten in der Woche eine Übernachtung in der Schorfheide, aber die Dame im Jobcenter meinte, es sei das Wichtigste in seiner Lage, sich diszipliniert an klar fixierte Tagesabläufe zu halten und sich immer konkret abrechenbare Aufgaben zu stellen. Seine Lage … Fillip schüttelte den Kopf. Bis vor kurzem war er täglich nach Berlin reingefahren für einen Buchhaltungsjob, den er nicht nur mit 46, sondern auch noch mit 67 ertragen hätte. Inzwischen gab es seinen Arbeitgeber nicht mehr und irgendwie fehlten Fillip die Spezialkenntnisse, sich auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu präsentieren. Das war seine Lage. Und eben jener Disziplin wegen stand von 10.30 bis 11.30 Uhr auf Fillips persönlicher Agenda „Internet, Direktsuche, neue Stellenangebote prüfen“.

Fillip Wegerich nannte sich gern konservativ. Er arbeitete noch immer an einem fast klassischen Computer. Nicht, dass er etwas gegen die handlichen Dinger für die Aktentasche gehabt hätte. Aber die verlangten auch unterwegs nach Benutzung und er war kein Multitasking-Typ. Ihm hatte als Fortschritt gereicht, so einen internetfähigen Fernseher zu haben, den er der Einfachheit halber meist weiter Computer nannte, weil er ja alle Funktionen erfüllte. Nur der Bildschirm war größer und schöner.

… Funktionen erfüllte?! Hochgefahren war das verdammte Ding ja schnell wie immer. Aber dem Befehl, ihn ins Internet zu bringen, verweigerte sich das widerspenstige Gerät. Was war denn nur los?

Fillip hatte sich mit derartigen Problemen noch nie beschäftigt. Er wusste natürlich, dass man in seiner Gegend lange kein Internet hatte empfangen können, als fast schon die ganze Welt versorgt war. Aber nun …? Es war doch alles …

10.25 Uhr. 

Wenn eine Störung auftritt und das Gerät ist nicht kaputt, dann tritt dieselbe Störung auch bei anderen auf, die sich gleich beschweren. Fillip hält das für eine Selbstverständlichkeit. Darauf darf er sich verlassen. Er selbst war kein solcher Sich-gleich-beschweren-Typ. Mochten sich doch andere wichtig tun, er würde in Ruhe abwarten. Die Situation war im Gegenteil ein guter Vorwand, vom üblichen Tagesablauf abzuweichen. Er würde also jetzt fernsehen und seine Jobrecherche am Nachmittag nachholen.

Das war doch nicht möglich! Fillip zappte immer nervöser von Sender zu Sender. Auf dem Bildschirm zeigte sich ein schwaches Krisseln oder wie die Leute in der Anfangsjahren des Fernsehempfangs diese Punkte genannt hatten. Einfacher gesagt: Da war kein Bild. Fillip konnte sich nicht daran erinnern, so etwas jemals selbst erlebt zu haben. Aber eigentlich war das immer noch kein Grund zur Beunruhigung. Dann sah er sich eben bis zum Mittag einen heruntergeladenen Film an. Es würde schon niemand merken, dass er wieder einmal nicht jenes Musterbeispiel an Selbstdisziplin war, als das er von Gabi den Kindern gegenüber hingestellt wurde.. Schon waren Fillips Gedanken mit der Frage beschäftigt, welcher Film ihm denn in dieser Situation am meisten zusagen würde. Seltsamerweise fiel ihm dabei die Jobcenterdame ein: „...in Ihrer Lage ...“

12.40 Uhr. 

Ach du Schreck! Hatte er etwa das Bäckerauto verpasst? So gegen halb eins hielt es normalerweise an der Kreuzung. Es war einfach praktischer, sich sozusagen direkt vor Ort frisch einzudecken, als sich auf den weiten Weg zum nächsten Bäcker zu machen. Nur Gabi sah es nicht gern, wenn er außer der Reihe abends noch ihr Auto haben wollte und dann war das Zeug auch nicht mehr frisch. Wenn er bei Günther anriefe? Der wusste bestimmt, ob der Bäcker schon durch war.



Es knackte merkwürdig in der Leitung, dann ertönte Günthers aufgeregte Stimme, noch bevor Fillip etwas sagen konnte: „Dassn Ding, was? Die Aliens haben die Macht übernommen. Jetzt passiert mal was in der Welt ...“ Günther redete und redete, aber Fillip verstand überhaupt nicht, was der dicke Alte da erzählte. Unschlüssig betrachtete er den Hörer, Er runzelte die Stirn, dann hielt er den Hörer weit vom Ohr weg, unsicher ob er zuhören oder auflegen sollte. Komischer Kauz. Schien gerade durchzudrehen. Tja, der Suff … Dann aber kam Fillip eine Art Erleuchtung. Hatte es so etwas Verrücktes nicht schon einmal gegeben? Das musste irgendwann in den 50er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen sein. Da hatten sie in Amerika ein Hörspiel über die Invasion von Marsmännchen gesendet und viele Leute waren in Panik ausgebrochen. Ob gerade so eine Sendung lief? Es war sowieso ein missratener Mittwoch. Da konnte er sich auch noch einen zweiten Film genehmigen. Vor drei Uhr war sowieso niemand zurück. ,,,

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