Donnerstag, 19. September 2013

Fillip der Erdling



Es war Mittwoch, der 23. Oktober, 8.24 Uhr. 

Fillip saß auf der Toilette und schlug die Tageszeitung auf. Das war einer der schönsten Augenblicke jedes Tages. Max und Jule saßen im Bus in Richtung Schule in der Kleinstadt, Gabi im Auto nach Berlin, um das Geld der Familie bei ihrer Versicherung zu verdienen. Also natürlich nicht bei ihrer, sondern bei der, bei der sie arbeitete, jener nicht nur aus der Werbung bekannten. Fillip war stets bemüht, den Namen nicht zu nennen. Dann kämen diese wissenden Blicke: Versicherung, na ja … und dann noch die …

Jetzt aber lag der Morgenstress hinter ihm und jeder denkbare Tagesstress noch in der Ferne. An alle waren Küsschen verteilt, den Kindern war ein ausgewogenes zweites Frühstück eingepackt und, ja, er hatte aufgepasst, dass jeder wie immer seine wichtige erste Mahlzeit des Tages im Kreise der unaufgeregten Familie einnahm, Jule hate er noch einmal bestärkt, dass bei der Mathearbeit überhaupt nichts passieren könne, weil sie ja gelernt habe und er kontrolliert habe, dass sie den geforderten Stoff beherrsche. Schließlich hatte er hinter dem abgefahrenen Opel das Hoftor geschlossen, die Zeitung gegriffen und …

Na, jedenfalls saß er nun entspannt auf der Brille und stellte fest, dass man ihm die Wahl laß, sich entweder zu ärgern oder zu gruseln: Ein furchtbarer Tornado sei über Wisconsin hinweggeweht. Mehrere Orte seien zerstört, bisher 78 Tote geborgen worden. Dazu ein Foto von etwas Verwüstetem.

Fillip wollte sich nicht ärgern und sich gruseln auch nicht. Wisconsin war schließlich in den USA und dort gab es eine Jahreszeit mit vielen Tornados. Die kamen aus der Karibik und … Lag Wisconsin eigentlich an der Küste? Und gehörte der Oktober zur Tornadozeit? Fillip legte die Zeitung auf die Waschmaschine. Die erhoffte totale Entspannung wollte sich an diesem Morgen einfach nicht einstellen. Vielleicht hätte er nur den Sportteil aufschlagen sollen. Ob nun Hertha oder Union oder dieses Türkiyedingsbums nicht gewonnen hätte, ,,, Es hätte ihn alles nicht berührt. Nun war aufzuräumen und dann …




Immer noch Mittwoch, 23. Oktober, inzwischen 10.12 Uhr. 

Das Haus war bereit, eventuelle Gäste zu empfangen. Es würden zwar keine kommen, denn wer wollte ausgerechnet Ende Oktober und mitten in der Woche eine Übernachtung in der Schorfheide, aber die Dame im Jobcenter meinte, es sei das Wichtigste in seiner Lage, sich diszipliniert an klar fixierte Tagesabläufe zu halten und sich immer konkret abrechenbare Aufgaben zu stellen. Seine Lage … Fillip schüttelte den Kopf. Bis vor kurzem war er täglich nach Berlin reingefahren für einen Buchhaltungsjob, den er nicht nur mit 46, sondern auch noch mit 67 ertragen hätte. Inzwischen gab es seinen Arbeitgeber nicht mehr und irgendwie fehlten Fillip die Spezialkenntnisse, sich auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu präsentieren. Das war seine Lage. Und eben jener Disziplin wegen stand von 10.30 bis 11.30 Uhr auf Fillips persönlicher Agenda „Internet, Direktsuche, neue Stellenangebote prüfen“.

Fillip Wegerich nannte sich gern konservativ. Er arbeitete noch immer an einem fast klassischen Computer. Nicht, dass er etwas gegen die handlichen Dinger für die Aktentasche gehabt hätte. Aber die verlangten auch unterwegs nach Benutzung und er war kein Multitasking-Typ. Ihm hatte als Fortschritt gereicht, so einen internetfähigen Fernseher zu haben, den er der Einfachheit halber meist weiter Computer nannte, weil er ja alle Funktionen erfüllte. Nur der Bildschirm war größer und schöner.

… Funktionen erfüllte?! Hochgefahren war das verdammte Ding ja schnell wie immer. Aber dem Befehl, ihn ins Internet zu bringen, verweigerte sich das widerspenstige Gerät. Was war denn nur los?

Fillip hatte sich mit derartigen Problemen noch nie beschäftigt. Er wusste natürlich, dass man in seiner Gegend lange kein Internet hatte empfangen können, als fast schon die ganze Welt versorgt war. Aber nun …? Es war doch alles …

10.25 Uhr. 

Wenn eine Störung auftritt und das Gerät ist nicht kaputt, dann tritt dieselbe Störung auch bei anderen auf, die sich gleich beschweren. Fillip hält das für eine Selbstverständlichkeit. Darauf darf er sich verlassen. Er selbst war kein solcher Sich-gleich-beschweren-Typ. Mochten sich doch andere wichtig tun, er würde in Ruhe abwarten. Die Situation war im Gegenteil ein guter Vorwand, vom üblichen Tagesablauf abzuweichen. Er würde also jetzt fernsehen und seine Jobrecherche am Nachmittag nachholen.

Das war doch nicht möglich! Fillip zappte immer nervöser von Sender zu Sender. Auf dem Bildschirm zeigte sich ein schwaches Krisseln oder wie die Leute in der Anfangsjahren des Fernsehempfangs diese Punkte genannt hatten. Einfacher gesagt: Da war kein Bild. Fillip konnte sich nicht daran erinnern, so etwas jemals selbst erlebt zu haben. Aber eigentlich war das immer noch kein Grund zur Beunruhigung. Dann sah er sich eben bis zum Mittag einen heruntergeladenen Film an. Es würde schon niemand merken, dass er wieder einmal nicht jenes Musterbeispiel an Selbstdisziplin war, als das er von Gabi den Kindern gegenüber hingestellt wurde.. Schon waren Fillips Gedanken mit der Frage beschäftigt, welcher Film ihm denn in dieser Situation am meisten zusagen würde. Seltsamerweise fiel ihm dabei die Jobcenterdame ein: „...in Ihrer Lage ...“

12.40 Uhr. 

Ach du Schreck! Hatte er etwa das Bäckerauto verpasst? So gegen halb eins hielt es normalerweise an der Kreuzung. Es war einfach praktischer, sich sozusagen direkt vor Ort frisch einzudecken, als sich auf den weiten Weg zum nächsten Bäcker zu machen. Nur Gabi sah es nicht gern, wenn er außer der Reihe abends noch ihr Auto haben wollte und dann war das Zeug auch nicht mehr frisch. Wenn er bei Günther anriefe? Der wusste bestimmt, ob der Bäcker schon durch war.



Es knackte merkwürdig in der Leitung, dann ertönte Günthers aufgeregte Stimme, noch bevor Fillip etwas sagen konnte: „Dassn Ding, was? Die Aliens haben die Macht übernommen. Jetzt passiert mal was in der Welt ...“ Günther redete und redete, aber Fillip verstand überhaupt nicht, was der dicke Alte da erzählte. Unschlüssig betrachtete er den Hörer, Er runzelte die Stirn, dann hielt er den Hörer weit vom Ohr weg, unsicher ob er zuhören oder auflegen sollte. Komischer Kauz. Schien gerade durchzudrehen. Tja, der Suff … Dann aber kam Fillip eine Art Erleuchtung. Hatte es so etwas Verrücktes nicht schon einmal gegeben? Das musste irgendwann in den 50er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen sein. Da hatten sie in Amerika ein Hörspiel über die Invasion von Marsmännchen gesendet und viele Leute waren in Panik ausgebrochen. Ob gerade so eine Sendung lief? Es war sowieso ein missratener Mittwoch. Da konnte er sich auch noch einen zweiten Film genehmigen. Vor drei Uhr war sowieso niemand zurück. ,,,

Welcher nun bin ich?



Die Faszination des Unerlaubten hat mich im Griff. Was ist denn in unserer Welt verboten? So gut wie nichts. Aber diese Kapsel bedeutet Gefahr, eine schwer einzuschätzende Gefahr. Umso mehr zieht sie mich an.

Ich habe sie sogar schon benutzt. Ich bin hineingegangen, habe im Sessel Platz genommen, den Countdown abgewartet … und dann war ich in der Zukunft und habe von dort den Gentransmitter mitgebracht.

Nun wollen alle reisen wie ich. Ich aber … In meinen Träumen sehe ich mich auf der Kommandobrücke eines vorzeitlichen Schiffes, die Hand am Steuerrad. Ein Albtraum. Ich kann es nämlich nur in eine Richtung bewegen, obwohl ich weiß, es müsste sich rechts und links herum drehen lassen. Ausgerechnet in die Richtung, in die ich will, darf ich nicht. In all diesen Träumen unterwerfe ich mich und mein Schiff versinkt. Das heißt, ich spüre noch eine gewaltige Erschütterung und dann erwache ich mit Schweiß bedeckt und du bist vor so langer Zeit schon gestorben und das, verdammt, ist kein Traum! Werde ich denn nie darüber hinwegkommen?

Natürlich gehörten die Gründe für die Ablehnung einer Reise in die Vergangenheit zu meiner Ausbildung als Temp-Pilot. Nicht nur das Großvaterparadoxon. Aber schon damals drängten mich theoretisch bewiesene Unmöglichkeiten nur dazu, doch eine praktische Möglichkeit zu suchen. Verdammt, ich will nicht meine Vorfahren umbringen … ganz im Gegenteil!

Warum nur ließ ich dich damals abfliegen? Wenn ich nein gesagt hätte, du hättest auf mich gehört. Es geht nicht um mich, obwohl es auch um mich geht. Natürlich hätte ich es niemandem gegenüber eingestanden, um keinen Preis der Welt. Aber ich fühle mich schuldig. Wegen eines unausgesprochenen Satzes bist nicht nur du, sondern ist auch die keimende Frucht unserer nicht entfalteten Liebe im Nichts verloren gegangen. Und nun brülle ich morgens mit mühsam unterdrückter Stimme mein Spiegelbild an: „Nein, ich bin kein Egoist!“ Dabei kann ich nicht einmal sagen, was ich am ehesten damit meine: Dass ich dich, euch habe in den Tod gehen lassen, weil ich mich nicht von Anfang an euphorisch auf die Frucht unserer spontanen Intimität gefreut hatte, oder dass ich dich nicht längst nachträglich gerettet habe oder dass ich genau das immer wieder erwäge, obwohl ich weiß, dass das für das Leben einer unbekannten Zahl von Menschen im Jetzt eine unwägbare Gefahr sein kann. In den ersten Jahren hatte ich mich fast damit abgefunden. Schicksal. Es war ja nicht ungeschehen zu machen. Aber seit ich weiß, dass ich es vielleicht doch ungeschehen machen könnte … Inzwischen habe ich bereits das Verständnis für Vorher und Nachher, für Gut oder Böse verloren. In grauen Vorzeiten sollen die Menschen einmal gebetet haben: „... und führe uns nicht in Versuchung!“ Oh, wie gut kann ich sie verstehen, jetzt, da ich täglich gegen die Versuchung ankämpfe, mein und dein Schicksal durch eine Reise in die Vergangenheit zum Guten zu wenden. Ich kann, ich will nicht mehr!

Es ist soweit. Die Raum-Zeit-Koordinaten jenes Augenblicks, an dem ich jenes verfluchte „Aber natürlich freu ich mich mit dir; fahr nur!“ sagte, habe ich mehrmals mit verschiedenen Methoden durchgerechnet. Auch die nötige Frist, die ich in jener Zeit bleiben muss und die Koordinaten, von denen ich automatisch wieder zurückgeholt werden möchte.

Ein getränktes Tuch. Alles Andere ist wie immer. Die Identitätstests, die Tore, die Tür der Kapsel. Diesmal aber rufe ich Chris vor der Verriegelung der Kapseltür zu, mir sei was Wichtiges für sie eingefallen. Sie vertraut mir, liebt mich wahrscheinlich, obwohl ich ihre Gefühle nie erwidern könnte. Ich habe richtig spekuliert. Chris lacht, lässt mich aus der Kapsel zurückspringen, sich umarmen und küssen, und sie beachtet nicht, dass mein zweites Durchschreiten der Tür die Automatik blockiert. Genau diese Zeit brauche ich gegen die Sicherheitsroutinen. Ich greife in die Tasche und plötzlich versucht Chris mit dem Tuch vor dem Mund vergeblich, etwas zu rufen. Schon schläft sie. Bewusst habe ich bei der ganzen Aktion der Überwachungskamera den Blick auf Chris versperrt und jetzt nehme ich mir die Zeit, vermeintlich zärtlich Abschied nehmend die Frau vorsichtig in ihren Sessel zurückgleiten zu lassen und sie so zu drapieren, dass ihre geistige Abwesenheit nicht sofort ins Auge fällt. Später wird sie sich weder daran erinnern, dass sie geschlafen hat noch was davor passiert ist. Sie wird mich weder verraten wollen noch können.



Ich ersetze an ihrem Pult die Zielparameter in der Zukunft durch meine in der Vergangenheit liegenden, setze die Verweildauer auf 15 Minuten fest und aktiviere den automatischen Countdown. Zurück in der Kapsel verfolge ich äußerlich gelassen den Schließvorgang der Tür. Dann wird mir heiß, erfasst mich die fast schon gewohnte Hitze, die suggeriert, ich sei flüssiges Gestein. Es scheint alles in Ordnung. ...

Die schwebende Jungfrau



Ein Mann Anfang 40 betrat den virtuellen Saal mit militärisch festem Schritt. Er trug die Offiziersuniform der Raumflotte, hatte allerdings die Rangabzeichen verdeckt. Etwa in der Mitte des freien Platzes zwischen der erhöht sitzenden Jury und den Zuschauern blieb er stehen und salutierte in Richtung der Vorsitzenden Richterin. Dass der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt war, richtiger, dass mehrere Hunderttausend Zuschauer meinten, einen der 400 Sitze zu belegen, schien ihn nicht zu berühren. Am wenigsten, dass eine Mehrheit dieser Zuschauer Frauen waren, die sich hauptsächlich in die öffentliche Anhörung eingeschaltet hatten, um ihn zu sehen.


„Flottenkapitän Klasse A in Prüfung Rainer Schade, geboren 14.10.315, zur Stelle.“


Es folgte die Vorstellung der neun Jurymitglieder, an deren Plätzen jeweils ein deutlich lesbares Namensschild aufgestellt war.


Diese Bilder sahen die Zuschauer an ihren heimischen Computern alle fast gleich, nur variiert durch die Perspektive des Platzes, den der Hauptcomputer der Konferenzübertragung ihnen zugeordnet hatte. Logischerweise sahen sich die Mitglieder der Jury und der Kapitän an den ihnen zugeteilten Plätzen, der Kapitän hatte den Eindruck, in den Raum hineinzugehen.


Zu aller Überraschung hob der Kapitän bereits bei der Verlesung der Vorwürfe gegen seine Person die linke Hand. Mit Erfolg. Die Richterin unterbrach ihren Satz und fragte irritiert: „Missfällt Ihnen die Geschäftsordnung, Kapitän Schade?“


„So könnte man es ausdrücken. Obwohl ich nichts gegen Formalien haben darf, sie sichern, dass jeder weiß, was er wann wie zu tun hat, sollten wir uns gegenseitig nicht die Zeit stehlen. Also ich bekenne mich schuldig im Sinne der Anklage, die Ereignisse um die „Kap der Guten Hoffnung“ verschuldet zu haben. Ich trage aber eine Schuld, die weit über die grundsätzliche Verantwortung eines Kapitäns hinausgeht und die durch meine Mannschaft nicht getragen, ja, nicht einmal geahnt werden konnte. Ich bitte darum, entgegen den Regeln des Protokolls meine Sicht zu den Ereignissen als Beitrag zur Anklage darlegen zu dürfen, und zwar möglichst ohne Zwischenfragen, auch wenn manche Details für Sie vielleicht keinen Zusammenhang mit der Katastrophe zu haben scheinen. Ich beantrage also, die Vorwürfe, mein Verhalten betreffend, diesen Ausführungen entsprechend zu erweitern.“


Die Vorsitzende Richterin lächelte: „Kapitän Schade, Sie wissen selbst, dass es sich hier um keine formelle Anklage handelt, sondern um eine Vorklärung, inwieweit durch Beteiligte bewusst schuldhaftes Fehlverhalten vorliegen könnte. Wir sind also noch nicht an ein Protokoll gebunden. Dies also fürs Protokoll.“


Der Hauptcomputer generierte Gelächter im Publikum. Die meisten Zuschauer fanden die Form der Zurechtweisung passend.


„Entschuldigung. Aber ich möchte endlich beginnen dürfen. Ich habe lange nachgedacht. Sicher bin ich mir in manchen Fragen nicht. Bei anderen wiederum besteht kein Zweifel. Zum Beispiel, dass ich zum Führen eines A-Klasse-Raumschiffs nicht ausreichend geeignet bin. Ich kann hier nichts mehr gewinnen. Also darf ich ...?“


Das Nicken der Vorsitzenden Richterin wirkte ungewöhnlich wohlwollend. 


„Danke. 





Es gibt zwei Möglichkeiten, wie ich anfangen könnte. Mit jenem Ereignis während der Kadettenausbildung, das so wichtig für das Folgende ist, obwohl Sie überhaupt nicht darauf einzugehen gedachten, oder dem Moment, an dem ich erstmals die Mannschaftsliste für dieses, mein erstes A-Klassen-Kommando in den Händen hielt. In gewisser Hinsicht läuft es auf eins hinaus. Schließlich fiel mir auf der Liste sofort der Name Mara Hattweiler auf. So oft gibt es den schließlich nicht, in der Raumflotte schon gar nicht. Ich musste mich also an unsere Begegnung von damals erinnern und habe es auch getan. Nicht, dass ich da die Verantwortung hätte wegschieben sollen, aber hätte ich in dem Augenblick jemanden ins Vertrauen gezogen, wären wir vielleicht gemeinsam zu einer ungefährlichen Lösung gekommen. Schließlich war ich in diesem Moment noch der Einzige, der über das notwendige Wissen verfügte. Verstehen Sie: Als ich nach dieser Zirkusvorführung damals so oft antwortete „Ich weiß nicht.“, da wusste ich ja wirklich nicht, wie die Leistung zustande gekommen war. Es machte mir aber Spaß, dass die anderen mir natürlich nicht glaubten und bei allem Spott das Ganze für Geheimniskrämerei hielten, die eben dazugehörte. ...

Sozac - Das Glück hat einen Namen


Eigentlich liebte Juliane ihr Auto. Das leise Summen im Hintergrund löste viel von der Anspannung der stressvollen Arbeitstage. Falls etwas summte! An diesem Nachmittag passierte nichts. Das Handy zeigte auch keinen Empfang … Wenn schon etwas schief ging, dann kam es gleich ganz dicke.
Wenigstens war in der Nähe ein U-Bahnhof. Juliane entschied, dorthin zu laufen und sich von zu Hause aus um den Wagen zu kümmern.
Seit fünf Jahren war sie nur mit ihrem Auto gefahren. So suchte sie etwas unbeholfen einen Automaten für Fahrscheine. Von eiligen anderen Passanten vorwärtsgestoßen, löste sich das Problem von selbst: An einer Lichtschranke wurde das Entgelt direkt von ihrem Konto abgebucht.
Vor Juliane öffnete sich eine Gasse. Ein Pärchen visierte dort die Vorbeikommenden mit einem pistolenförmigen Gerät an, ohne dass jemand davon Notiz genommen hätte. Alle gingen lächelnd weiter. Wer sollte hier schon die Sicherheit stören?
Bei Juliane stieß das Gerät ein unangenehmes Fiepen aus. Plötzlich fühlte sie sich in eine Ecke gezogen. Ungerührt strömten die nächsten Passanten vorüber. Weil auch die beiden Sicherheitsleute durch sie hindurchlächelten, erstarb Julianes Hilferuf auf ihren Lippen.
„Das gibt es also wirklich noch.“ Die Frau hatte eine angenehm warme Stimme. Juliane beruhigte sich wieder.
„Seit gut einer Stunde läuft unser Prüfprogramm. Kein Fahrgast ist aufgefallen. Alle haben wenigstens probiert, glücklich zu werden. Ihnen dürfen wir die Gelegenheit anbieten, das Glück zu testen, kostenlos und ohne irgendeine Verpflichtung. Sozac ist genau das, was Sie brauchen.“
Juliane wollte eine ausweichende Antwort geben, um auf den Bahnsteig zu kommen.
„Probieren Sie nur. Sie sehen abgespannt aus. Es wird Ihnen gut tun.“
Abgespannt fühlte sie sich tatsächlich. Und die beiden würde sie eh nicht los, ohne eine der angepriesenen Pillen abgenommen zu haben. Also streckte sie die rechte Hand aus und öffnete den Mund zum Dank. Schwupps, schon hatte die Frau Juliane eine Tablette auf die Zunge gelegt.
Ausspucken? Ein kameradschaftlicher Schulterklopfer, Juliane beugte sich vor, schloss den Mund und schluckte unwillkürlich runter. Im Aufrichten suchte sie eine abweisende Bemerkung. Dann sah sie ihnen in die Augen. Waren sie nicht nett?
„Vielen Dank auch. Alles Gute! Ciao!“
„Kommen Sie gut nach Hause!“
Juliane hüpfte die Treppe hinunter. Eine riesige Werbetafel empfing sie: „SOZAC – Das Glück hat einen Namen.“
Juliane lächelte.
Die nächste Bahn wurde mit fünf Minuten Verspätung angekündigt. Sonst hätte sich Juliane sicher über die weitere Verzögerung geärgert; nun sagte sie sich, die Bahn käme ja gleich. Entspannt betrat sie den überfüllten vorletzten Wagen. Lachend fiel sie später ihrem wartenden Sohn in die Arme. Der vergaß seine ganze Strafrede wegen der Verspätung, sobald sein erzürnter Blick auf die strahlenden Augen der Mutter traf. Zu Hause sangen die beiden nach der Hausaufgabenkontrolle eine Stunde lang Quatschlieder. Glücklich müde ließ sich Max ins Bett bringen. Nach dem Gute-Nacht-Kuss rief er: „Schön, dass es dich gibt, Mutti.“
Zum ersten Mal seit vielen Monaten schlief Juliane ohne zu grübeln ein. Sie schlief sogar durch.
Am nächsten Morgen wachte sie erfrischt auf. Nur ein merkwürdiges Pochen im Genick erinnerte an das alltägliche Grauen beim Aufstehen. Allerdings, während sie sonst mit jedem Handgriff besser in Fahrt kam, nahm diesmal das Pochen eher zu. Oder quietschte Max wirklich lauter als an den anderen Tagen? ...

Das Oppi der Reife

Schweigend beobachtete Luna ihre beiden großen Schwestern.
Mika war schon angezogen. Was die an Bräunungscreme eingesetzt hatte! Aber an diesem Tag war wohl alles erlaubt, was schön machte. Zumindest die in ihre blauschwarzen Haare eingeflochtenen roten Blüten. Auch Jasmin hatte ihre Haare ja wachsen lassen, seit ihr erster Tropfen die Wäsche weiblich gerötet hatte, um an ihrem Oppitag gut auszusehen.
Und Luna? Ihre Haare ließ sie inzwischen ohne Frisur. Noch ein Jahr und dann wäre sie dran.
Das würde Tänze geben! Dieses Kleid! Die Arme ließ es frei, über den unsichtbar angehobenen Brüsten wurde es von einer einzigen Spange zusammengehalten, an der drei Onyxe glühten. Bis über die Hüften war es eng geschnitten, um dann weit schwingend bis zu den Waden zu fallen. Schneeweiß, voller Spitzen, Volants und zarten Rüschen betonte es die Haut, die glatt aussah und dunkel wie das Ebenholz aus dem Märchen. Es machte aus Jasmin eine richtige Märchenprinzessin.
Die Haare fielen noch lose und voller natürlicher Locken über die Schultern. Frisiert würde erst nach dem Oppi. So war es Brauch. Weil dann alles schnell gehen musste, hatten die großen Mädchen wochenlang das Flechten geübt. Da würde Luna den ganzen Tag lang das Aschenputtel bleiben.
Mika hatte Sternchen aufgelegt. Trotzdem zog nur Jasmin die Blicke auf sich, als sie stolz durch die breite Gasse der erwartungsvollen Gäste zwischen Anzieh- und Operationszimmer schritt. Obwohl der Weg nur wenige Meter lang war, kostete er die Reifekandidatin mehrere Minuten. Alle wollten ein paar liebe persönliche Wünsche loswerden und das große Mädchen kurz drücken. Ihre beiden fast gleichaltrigen Schwestern waren total vergessen.
Luna wurde es schließlich langweilig. Sie schlängelte sich zwischen den Festgästen hindurch. Onkel Bori fragte gerade seine Begleiterin, ob sie sich Jasmin besser als Politikerin oder als Mutter vorstellen könne.
Na, ein Glück, dass ihr die Entscheidung abgenommen wird. Du wärst früher bestimmt scharf auf sie gewesen oder wie man das genannt hatte. Siehst du, nun bist du glücklich mit mir und alles hat seine Ordnung. Das ist eben so eine Sache mit dem Denken. Du kannst dich damit vernünftig anpassen, dann brauchtest du vielleicht gar kein Oppi, du kannst aber auch zum Aufrührer werden. Stell dir vor, du kämst dann zur Macht! Das wäre ja Revolution, wäre das ja.“

Die Frau sprach dieses Wort mit einem Ekel in der Stimme, als hätte sie einen Regenwurm in ihrem Sektglas gefunden. Von Aufrührern und Revolution hatte Luna im Geschichtsunterricht gehört. Mussten das seltsame Zeiten gewesen sein, als es noch keine geregelte Denksteuerung gab! Die Leistungsträger mussten ungeheuren Aufwand treiben, um herauszubekommen, was die Leute dachten und wie man sie unbemerkt mit geschmückten Gedanken füttern konnte, damit sie zum Schluss endlich dachten, was sie sollten. Trotzdem waren die meisten Menschen unzufrieden, es gab Schlägereien, kleine und große, Diebstahl, Mord und noch größere Verbrechen wie eben Revolutionen! Wie so schlechte Worte wohl in die Unterhaltung der Erwachsenen hineingeraten waren? Wo das doch längst Geschichte war ......

Kein zurück zur Natur

Sie hassten die Nachtwachen. Und zugleich liebten sie sie. Keine Dienstzeit bot eine so große Aussicht auf ungestörtes Abhängen. Und durch die Art des Objektes war normalerweise Erholung angesagt. Natur pur. Keine Kaserne in unmittelbarer Nähe, nur eine Zufahrt. Man mochte es Verschwendung nennen, aber es gab die Hauptstraße und eben diese Versorgungsstraße. Hier näherten sich nur Militärfahrzeuge. Wenn denn was los war. Gelegentlich war vorn was los. Irgendwelche schlafwütigen Pazifisten gingen ihnen auf die Nerven. So ein Bombodrom senke den touristischen Wert der Gegend. Gerade die zurückgezogene Stille sei ihre Besonderheit. Wanderwege, Heide, Bäume, vor allem Kiefern. Dabei … sollten die Bombenabwürfe denn in Kreuzberg oder Barmbek geübt werden? Hier war die toteste Hose und hier lag schon so viel Kampfschrott, dass es auf die paar neuen Tests auch nicht mehr ankam. „Sperrgebiet!“ Die Schilder waren ja nicht zu übersehen. Was das für ein Aufwand wäre, allein die Munitionsreste zu bergen! Also machte man weiter.
Übermäßig beliebt war der Platz bei den Soldaten nicht. Aber auch das war nicht sonderlich schlimm. Hier hatte kaum einer seinen festen Standort. Gerade einmal genügend Leute, um eben abzusichern, dass keine Lebensmüden sich im Revier herumtrieben. Nur bei Übungen war was los.
Als die beiden Gefreiten Käsich und Maurer dem Ende der Nachtwache entgegensahen, war keine Übung. Normalerweise hatte der Dienst hier einen eigenen Vorzug: So viele Vorschriften es auch geben mochte, hier wurde kaum eine ernst genommen. Warum auch? Wer hätte sie kontrollieren sollen? Dafür eignete sich die Zeit zwischen tiefer Dunkelheit und Morgendämmerung zu dummen Späßen fast so gut wie zu echten Männergesprächen.

… „Du spinnst!“, knurrte gerade der eine.
Das glaub ich einfach nicht. Und wenn sie zehnmal eine solche Wette verloren hätten. Glaubst du im Ernst, du kannst mir das weiß machen? Dass Kati vor denen gestrippt hat? Nicht Kati. Und hier schon gar nicht.“
Ronny“, erwiderte der andere erregt. „wenn ich es dir doch sage! Max hat das alles ganz genau beschrieben: Fünf Schnecken aus Bünnewitz, eben auch Kati dabei, in einem Opel Astra. Immer eine nach der anderen raus. Alle in Jeansröcken. Die als Erstes runter. Dann die T-Shirts, die Schuhe, die Zwillingsmützen … alles auf einen Haufen. Max sind fast die Augen ausgefallen. Zum Schluss haben sie ihre Strings unter die Jungs geworfen. Max hat Katis erwischt. Ein Duft … Ein Duft sag ich dir …“
Ach, halt´s Maul! Wer weiß, wo er den her hatte.“
Trotzdem starrte Ron auf die leere Straße in Richtung Siedlung, als würde im nächsten Moment ein Oldtimer mit Mädchen aus dem Dämmerlicht auftauchen.
Kati, nee. Kannst erzählen, was de willst. Ich glaub das nicht. Max macht nur auf dicke Hose.“
Der Gefreite Käsich hatte sich eine Zigarette angezündet und bot Ron Feuer an. Ron sog gierig Rauch ein. Inzwischen hatten die beiden ihre Position getauscht. Ron blickte nun auf das zum Abwurfplatz gehörende Waldgebiet. Eigentlich waren die Kiefern nur schemenhaft zu erkennen.
In Rons Gesicht vollzog sich dabei eine Wandlung. Das Entspannte wich aus seinen Zügen. Konzentriert versuchte er etwas zu erkennen. Was stimmte da nur nicht? Irgendetwas an dem Bild war ungewöhnlich. Wenn es nicht so peinlich gewesen wäre, hätte er Käsich angestoßen und … damit eben eingestanden, dass in ihm gerade eine unbestimmte Unruhe zu Angst wurde. Was war das nur?
Ron drehte sich weg. Krampfhaft versuchte er, sich das Bild der verführerischen Mädchen vorzustellen. Kati, ja, die hatte er stark gefunden.
Ruckartig drehte er sich zurück. Da war es wieder. Nein, anders. Rons Finger verkrampften unbewusst um die MPi. Seinem Partner fiel das nun doch auf. „Eh, Ronny, was ist denn? Spinnst du? Siehst du Gespenster?“
So kommt mir das vor. Ja. Aber sieh doch selbst! Guck dir die Bäume an! Fällt dir nichts auf?“
Auch Käsich musterte nun die sich immer deutlicher abzeichnenden Silhouetten. „Meinst du, ...“
Ich bin doch nicht blöd! Ich hätte gewettet, die Bäume standen vorhin anders.“

Auch Käsich hielt nun seine Waffe fester. ...

Zum letzten Mal FKK

Er lächelte. Alles war doch noch wie in den Jahren zuvor – was er nur gehabt hatte! „Wasserschutzgebiet“. Dasselbe rechteckige Hinweisschild wie eh und je und daneben das dreieckige mit der Eule „Landschaftsschutzgebiet“. Nichts deutete darauf hin, dass hier inzwischen die Außenstation eines biologischen Forschungsinstituts eröffnet haben sollte. Im lokalen Werbeblättchen war dazu ein kleiner Artikel erschienen. Es wurde vor dem wilden Baden im Testsee gewarnt. Man erprobe neuartige Methoden der Sauberhaltung des Wasserbiotops. Biologische. Solche, bei denen alle Stoffe, die komplizierter als H2O waren, radikal und schnell abgebaut würden. Klar. Zu Beginn jeder Saison wurden Storys verbreitet, die den Einsatz von Ordnungskräften gegen die Wildbader von vornherein unnötig machen sollten. Natürlich vergeblich.
Hinter Reinhard ruhte die Reihe der parkenden Autos am Straßenrand. Eindeutig zu viele, als dass sie alle den Anwohnern gehören konnten. Schnell rüber über die Marienstraße. Nun ging es nur noch den schmalen Pfad weiter. Wenn Reinhard jetzt eine Familie im Gänsemarsch oder Radfahrer entgegengekommen wären, hätte er auf den Wiesenrand ausweichen müssen. Es kam aber niemand. Dafür stieß er auf den Hauptweg und der tauchte in ein strauch- und baumkronenüberschattetes Wegstück ein. Man musste schon wissen, wohin man wollte. Er wusste es. Nun kam die nächste Gabelung. Rechts die Strandecke für die Ghetto-Nackten, links der freie Strandabschnitt, an dem sich Nackte und Textilierte relativ harmonisch mischten. Vielleicht die Bekleideten eher weiter hinten, zur Insel hin.
Reinhard wählte den linken Pfad. Das hatte einen Nachteil: Er ging direkt auf den Müllpunkt zu.
Der Müllpunkt war ein typisches Produkt deutscher Bürokratie. Natürlich durfte es an dem See keine Badestelle geben. Wo keine war, konnte es aber auch keine sanitären Einrichtungen, Müllsammelplätze und ähnliche dazu gehörende Dinge geben. Andererseits gab es diese Badestelle seit Jahrzehnten. Richtiger: Es wurde rund um den gesamten See gelagert, um zu baden, nur an dieser Stelle eben geballt. Also hatte irgendwann einmal jemand am Beginn dieses Strandes, der kein Badestrand sein durfte, eine Stange eingepflanzt und an dieser Stange einen großen blauen Plastiksack befestigt. So hätte „man“ dort seinen Müll hineinstopfen können.
Der Sack wurde jeweils Anfang des Jahres ausgetauscht. Reinhard kannte den Platz um den Müllsack nur in immer gleichem Zustand: Etwa im Umkreis von zwei Metern lagen Joghurtbecher und Reste vergangener Zeiten so sorgsam verstreut, als hätten Wildschweine die Hoffnung auf Fressbares zu spät aufgegeben. Vielleicht sollte dieser Anblick die eintreffenden Badelustigen von ihrem Vorhaben abhalten. Schon lange gingen die aber mit galantem Wegseh-Blick daran vorüber. Natürlich auch Reinhard. Diesmal aber hatte der blaue Sack einen Bruder bekommen, und jemand hatte sehr sorgfältig allen herumliegenden Müll beseitigt. Jedenfalls war kein einziges Teil zu sehen, das nicht natürlich gewachsen wäre. Badende waren allerdings so viele am Rand des Sees verstreut wie in den Jahren zuvor.

Reinhard fand es gut. Endlich kümmerte man sich um das Wohlbefinden der Badegäste. Er entledigte sich seiner Kleidung. Achtlos platzierte er sie neben der ausgebreiteten Decke und den Schuhen. Noch ein Kontrollblick: Es waren keine Hirsche in unmittelbarer Nähe. ...

Mit dem Toaster fing es an oder Die Kraft der linken Hand

Die Geschichte der Menschheit gliedert sich für mich in zwei Phasen: die Zeit bevor und die Zeit, nachdem mein Toaster klemmte.
Wenn ich aufstand, also in der Zeit davor, tat ich immer so, als hätte ich es verdammt eilig, zur Arbeit zu kommen. Ich kämpfte die Müdigkeit mit vielen Tricks nieder und überlegte, an welchen Stellen ich Zeit sparen konnte. Besonders wichtig erschien es mir, die morgendlichen Aufgaben straff durchzuorganisieren. Im Kopf hatte ich den genauen Ablaufplan der Kleinigkeiten, welche bis zum Arbeitsbeginn zu erledigen waren. Da war das Frühstück zu bereiten, Bad und Toilette zu bewältigen, der Computer hochzufahren und so weiter. Möglichst mussten die Arbeitsgänge so angeordnet werden, dass ich nirgendwo warten musste, dass also – nur so als Beispiel – der Computer hochfuhr, während ich frühstückte, oder der Toaster seine Aufgabe erfüllte, während ich mich wusch, aber der Toast noch heiß genug war, wenn ich ihn schmieren und essen konnte.
Entscheidend war, dass ich an jenem Morgen zum Frühstück wieder einmal Toastbrot beschmieren wollte. Dazu musste ich die Scheiben natürlich zuerst toasten. Wie gesagt: Das Warten auf den Toaster war einer jener Zeiträume, in denen ich anderes Nützliches erledigte. Ich schob also zwei Scheiben in den Apparat und eine legte ich quer darüber, um die Restwärme auszunutzen. Wie immer war eine kurze Toastzeit eingestellt. In dem Moment, in dem ich den Schalter nach unten drückte, war ich gedanklich bereits im Büro beim Computer, der in aller Ruhe hochfahren sollte. Ich lief ins Wohnzimmer, drückte ON und ging ins Bad. Es war immer ein wunderbares Gefühl, wenn ich beim Frischmachen wusste, dass zur selben Zeit mehrere Geräte etwas für mich schafften. Dieses Gefühl wurde an jenem Morgen aber durch ein anderes gestört: Ohne dass dies zu erwarten gewesen wäre, vertrieb ein kräftiges Aroma von frisch Verbranntem alle anderen Gerüche.
Bereits in der Tür zum Korridor begrüßte mich Rauch. Als ich jedoch – nun schon stärker beunruhigt – die Küchentür geöffnet hatte, stand ich plötzlich in undurchdringlichem Qualm. Hätte ich ausgerechnet da an die Weltgeschichte denken sollen, nur weil ich das sonst fast immer tat? Ich tat es jedenfalls nicht. Fast gleichzeitig riss ich den Stecker aus der Dose, packte mit einem Tuch den Toaster, schleuderte ihn in die Spüle (ein braunes Muster ist immer noch zu sehen), befeuchtete das Tuch und mit dem Tuch die schwelende Tapete, schob den Blumentopf vom Fensterbrett, riss das Fenster auf, rannte ins Wohnzimmer, riss auch dort das Fenster auf, begann tief einzuatmen … und als ich darüber nachdachte, was ich frühstücken könnte und dass ich glücklicherweise noch einen halben Eimer Restfarbe vom letzten Küchenanstrich im Keller hatte, interessierten mich Datum oder Weltgeschichte immer noch nicht. Eher, ob ich eine Rauchvergiftung haben könnte, und wie lange der Gestank in der Wohnung bleiben würde. Ob mir im Ablauf der sich überschlagenden Ereignisse ein Stück Film fehlen könnte, ich vielleicht einen elektrischen Schlag bekommen und es geblitzt hatte oder Ähnliches, weiß ich nicht mehr. Heute bilde mir das ein, aber wahrscheinlich habe ich mir das nachher dazugedacht. Eben, weil es so wahrscheinlich ist … Aber um ganz ehrlich zu bleiben: An den alles entscheidenden Punkt – und den muss es gegeben haben – kann ich mich nicht erinnern. Ich setzte den Tag fast normal fort … also soweit eine Wohnung voller Restrauch normal ist.
Dann aber besuchte mich mein Sohn. Er beklagte sich wie immer über seine Probleme beim Studium und ich wies ihn darauf hin, dass das alles viel leichter zu ertragen wäre, wenn er denn endlich eine zu ihm passende Freundin fände (es stellte sich heraus, dass sein „Studienproblem“ in einer bestand, die ihn gerade hatte abblitzen lassen) und er würde das schon packen. Ein Gespräch unter Männern also, und es war nur ganz natürlich, dass ich ihm väterlich ermunternd auf die Schultern klopfte. Erst viel später wurde mir bewusst, dass ich mit der linken Hand zugeschlagen hatte.
Man stelle sich meine Verblüffung vor, als mir mein Sohn vielleicht eine halbe Stunde später ohne Vorwarnung erklärte, er habe sich das genau überlegt und er habe beschlossen, er würde Kommunist. Wörtlich genau dies!
Bis zu diesem Augenblick war die einzige politische Rolle, für die er sich je interessiert hatte, die des Magiers in „World of Warcraft“. Selbst ich hatte ihn im Unterschied zu den meisten anderen Menschen, mit denen ich zu tun gehabt hatte, nicht mit Politischem belästigt. Wissen quält und über die Leser der BLÖD-Zeitung hätte Jesus sicher gesagt, dass glücklich sei, wer da arm ist am Geiste. Warum also sollte ich meinem Sohn nicht ein Stück Glück gönnen – noch dazu, wo er mir an fast allen Tagen des Jahres fern war und ich ihn deshalb nie hätte beschützen können? Irgendwann hatte ich es aufgegeben, ihn zu belehren – er war eben anders als ich.

Und nun begann er mir einen Vortrag zu halten! Ich neigte ja schon immer dazu, andere penetrant bekehren zu wollen. Dass das jemand mit fast exakt meinen eigenen Worten bei mir versuchte, war mir bisher aber noch nicht passiert. ... 

Sicher im Zoo

Zu ihrem 18. Geburtstag wünschten sie sich eine Schönheitsoperation. Wochenlang bearbeiteten sie ihre Eltern: Moderne Mädchen müssten einen perfekten Körper haben, vor allem einen eindrucksvollen Busen. In einer Zeitschrift hatten sie sogar einen Artikel gefunden, der ihre Behauptung wissenschaftlich-statistisch untermauerte. Zwischen Busengröße und -form von jungen Frauen und ihren Arbeitsmarktaussichten bestünde eine Korrelation … oder wie das hieß. Dies erkläre ihre bisher erfolglos gebliebenen Bewerbungsgespräche!
Das Argument, so leichter Männer zu finden, hatten Sally und Luise schon vorher aufgeben müssen. „Wenn er dich wirklich liebt, dann nimmt er dich auch so.“ Das hatten beide Mütter unisono geantwortet. Der Tochter, deren Brüste übermächtig schwer waren, und der, die ihre BHs mit Kissen und Einlagen ausstopfte.
Ja, wäre es um den fünfzehnten Geburtstag gegangen! Da hätte sich die Story von der parallelen Brustvergrößerung beziehungsweise –verkleinerung an die Medien verkaufen lassen. Vielleicht wäre nach den Operationen vom Erlös sogar noch etwas übrig geblieben. So aber lag die veranschlagte Kostensumme weit außerhalb der elterlichen wie die gewünschte Körperform außerhalb der jugendlichen Möglichkeiten. Sally und Luise mit ihren achtzehn Jahren waren einfach zu alt. Ihnen blieb nur der Weg zum Psychotherapeuten.
Sie müssen lernen sich anzunehmen. Und das können Sie, wenn Sie von anderen angenommen werden. Unternehmen Sie etwas, um mit Ihrem Körper klar zu kommen – in der Form, die er nun einmal hat …“
Dr. Schilly gelang es, die beiden umzustimmen. Nicht vor einem heimlichen Vertrauten, nein, unheimlich öffentlich würden sie die Makel ihrer Körperlichkeit preisgeben. Das würde ihr Selbstvertrauen festigen und damit ihr Selbstwertgefühl enorm steigern.
Schilly besaß ein bedeutendes Aktienpaket an „tele 007“. So war er frühzeitig über das „Zoo“-Projekt informiert, gehörte zur Jury, die die Kandidaten auswählte. Ruhig erläuterte er den Mädchen die Regeln des Dauerspiels: „Haben Sie schon einmal bekleidete Zootiere gesehen? … Sehen Sie! Absolute Nacktheit und Offenheit ist da die Norm.
Unsere „Zoo“-Kandidaten überschreiben den Veranstaltern die Ansprüche aus der Verwertung des Filmmaterials. Sie verzichten auf Freiraum innerhalb des Zoogeländes, dürfen dort aus beliebiger Position und zu jedem Zeitpunkt gefilmt werden. Sie verpflichten sich, keine zeugungsbeeinflussenden Mittel zu verwenden. Dafür nehmen sie aktiv am Wettbewerb um das Paar mit dem ersten im Zoo gezeugten Baby teil. Den Eltern dieses Babys sind nach Verlassen des Zoos Arbeitsplätze nach freier Wahl zum doppelten Durchschnittsgehalt garantiert. Jede Schwangerschaft wird mit einer lebenslangen Rente belohnt. Aber Sie brauchen natürlich nicht schwanger zu werden, wenn Sie keinen geeigneten Partner finden. Ich hielte das nur für eine besondere Chance für Sie.“
Wochen vor Eröffnung waren die Tageskarten für Gelegenheitsbesucher bereits ausverkauft gewesen. Jetzt regulierte ein Dutzend Ordner den Fußgängerverkehr auf den verglasten Zuschauerwegen, die bekleidet benutzt werden durften.

Das 007-Wettbüro nahm Wetten auf die ersten Schwangerschaften, Entbindungen und natürlich das Siegerpaar entgegen. Anfangs war alles sehr übersichtlich, denn als Startbesatzung waren nur Männer zugelassen, sämtliche Paare fanden also unter Beobachtung des Vor-Ort- und Fernsehpublikums zusammen, und die Namen der hinzugewählten Mädchen wurden schnell bekannt. Die Fans versuchten, bei der „Wette der Woche“ zu erraten, auf welchen Körperteil welchen Teilnehmers der Name welcher Firma aufgedruckt würde. Das wurde öffentlich ausgelost. An Werbung interessierte Firmen bezahlten die Lose, die täglich in die Firmentrommel kamen. Das Konzept von „tele 007“ ging auf. Der Sender war die Schlagzeile schlechthin. ...

Pulices libidinosi

Auch die Frauen müssen wollen, ob sie wollen oder nicht …
Was hatte sich Vögmann alles anhören müssen! Im Vorstand saßen fast nur Männer und Männer waren stets darauf aus, beim Sex ihre Männlichkeit vorzuführen. Lieber halfen sie heimlich mit Chemie nach, als sich niederhängend zu blamieren. Doch was es da an Mitteln gab, hatten andere patentiert. Da konnte man nur hinterherhinken. Aber so dachten die Typen eben.
Dabei … die Pille zur Maximierung weiblicher Lust wäre doch eine wissenschaftliche Spitzenleistung gewesen. Doch war sie für den Konzern zum Reinfall geworden und er, der alte Forscherhase, zum Blitzableiter für Yuppiefrust. Er hätte es doch wissen müssen, zogen sie ihn auf: Entweder waren die Frauen wirklich bereit – dann brauchten sie keine Pillen – oder sie wollten nicht, dann wollten sie eben auch so eine Pille nicht. Ihre Gedanken müsse man(n) vorher auf den Intimbereich richten, möglichst unauffällig, ja, am besten ohne weibliches Wissen und Mitwirkung. Und dann feixten sie, als wäre er der Einzige, den man im Vorstand nicht ernst zu nehmen brauchte.
Was hatte Vögmann nicht alles unternommen. Er hatte seine Konten schon im Speicher des Locus, also des Local cultural Systems, was früher mal das Arbeitsamt gewesen war, abschmelzen sehen, bis er seine Frührente hätte beziehen dürfen. Aber da hatten sich diese Berufsjugendlichen verrechnet. Vögmann hatte lange nach passenden Partnern gesucht, und er hatte welche gefunden. Menschenflöhe (pulices irritans)! Diesen Tieren hatte die Natur einen Sinn mitgegeben für die zum Einstich geeigneten Körperstellen und einen Injektionsstoff gegen Blutgerinnung. Nur verursachte ihr Stich ein zum Kratzen schlimmes Jucken. Das schrie nach Forschung: Dieses Jucken, also, dieses Jucken musste sich doch wohl in ein lüsternes, wohliges Kribbeln verwandeln lassen, oder?
Ein paar genetische Veränderungen an den Flöhen blieben noch zu finden. Wie regte das männliche Forscherhirn die Vorstellung an, den Flöhen könnte der Vaginalbereich als bester Einstichort erscheinen! War das kein wichtiges Ziel? Vor allem eines, das dem Konzern einen kaum erschlossenen Markt eröffnete? Ob sich das nun die Frauen selbst antäten, um sich auf den Männerempfang vorzubereiten, oder ob die Männer die süßen Beißer auf die Frauen ansetzten, war doch für den Umsatz egal. Hauptsache, die Flöhe vermehrten sich nirgendwo anders als in den eigenen Produktionshallen. Die dafür nötige Technologie gab es längst.
Welch Erfolg: Erste Testflöhe spritzten ihren Wirtsfrauen einen Botenstoff, unter dessen Einwirkung den Probandinnen Liebessäfte sprudelten, dass es ein reines Badevergnügen war.
Das eröffnete einen Wettbewerb um den passenden Namen für die neuen Geschöpfe. Allein das Wort „Floh“ löste ja schon ein unangenehmes Jucken aus! So konnte man die versoffenen kleinen G-Punkt-Kenner wirklich nicht nennen, wenn sie jemand kaufen sollte. Aber „Lustos®“, ja, das klang gut. Dagegen konnte niemand etwas haben.
Vögmanns Team irrte. Maria hatte etwas dagegen. Maria hasste inzwischen das ganze Forschungsprojekt. Ihr heimlicher Geliebter Angelo war einer testgebissenen weiblichen Probandinnengruppe in die entfesselten Kräfte geraten – ein Anfall-Unfall. Man hatte die Damen zwar mühsam von Angelos Männlichkeit lösen können, doch die war nun durch nichts und niemanden wieder aufzurichten. Der ehemals tolle Liebhaber wollte das nicht eingestehen, sich nicht und der kaum lustosbedürftigen Maria gegenüber schon gar nicht. Immer „gerade jetzt“ wollte er angeblich gerade nicht, dabei war doch der Zusammenhang ganz offensichtlich.
In einem ersten Anflug von Hass hatte Maria die „Höllenflöhe“ umbringen wollen. Aber ein richtiger Skandal wäre sicher besser. Er würde das Projekt bestimmt platzen lassen. Oder aber, auch das lohnte den Einsatz, er beflügelte den Absatz, und dann konnte sie ja verkünden, dass es ihre Idee gewesen war.

Erst die Lustos der letzten Entwicklungsstufe mussten sich dann in ihrer Fortpflanzung steuern lassen. Das war Bedingung für ihre Marktreife. Terminatorflöhe, damit zu jedem Einsatz neue gekauft werden mussten. Die aktuelle Lustflohreihe vermehrte sich aber noch ungebremst hemmungslos. Maria brauchte deshalb nur wenige Exemplare aus dem Forschungsbereich zu schmuggeln, um sie in einem Brutkasten mit Speziallösung zu einer gewaltigen Lustoskugel aufquellen zu lassen. ...

Der lebende See

Erinnerung? Nein. Eine Katastrophe? Ja. Blitze ... Bilder ohne Davor und Danach. Fürs Logbuch nicht verwendbar. Zu viele Lücken. Ich kann sie nicht füllen.
Sollten irgendwann Menschen nach Spuren unseres Untergangs auf diesem Planeten suchen, dann finden sie hoffentlich die Trümmer des Raumschiffs. Wenn sie die untersuchen, werden sie hoffentlich rekonstruieren können, was passiert ist. Zum technischen Versagen hätte ich sowieso fast nichts schreiben können … selbst wenn ich das Logbuch noch fände. Wahrscheinlich traf mich bereits beim Eintritt in die Atmosphäre ein Stoß, der mir das Bewusstsein nahm. Vielleicht hat mir genau das das Leben gerettet. Jedenfalls weiß ich nicht, was die anderen unternommen haben, bin aber sicher, dass sie nicht mehr am Leben sind. Mindestens einer von ihnen hat mich offenbar gerettet. Bei den ersten Bildern in meiner Erinnerung renne ich wie ein Wahnsinniger. Mein Raumanzug steht in Flammen und die Hitze dringt durch und im Laufen versuche ich, ihn auszuziehen, das Feuer abzustreifen. Wie ich auf die Idee kam, hinter mir gäbe es gleich eine Explosion und ich würde nur überleben, wenn ich dann weit genug weg wäre, weiß ich nicht. Auf keinem dieser Erinnerungsbilder trägt oder stützt mich jemand, aber allein kann ich eigentlich nicht aus dem Raumschiff herausgekommen sein. Ich habe ja gerade erst entdeckt, dass das Raumschiff nicht im Orbit geblieben ist, also keine Landekapsel eingesetzt worden ist. Alle heimlichen Hoffnungen auf schnelle Rettung vom Schiff im Orbit waren also von Anfang an unbegründet. Ich bin doch nur ein Mensch mit Hoffnung bis zum Schluss, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass man noch nach uns sucht und wenigstens andere Erkunder so rechtzeitig auf diesen Planeten stoßen, dass diese Aufzeichnungen noch gelesen werden können. Ich weiß ja nicht einmal, ob meine Sprache wirklich aufgezeichnet wird, weil die Wiedergabe nicht funktioniert. Der kleine Monitor zeigt Kurven, als sei alles in Ordnung. Sonst ist fast alles zertrümmert. Die Wunderwerke menschlicher Technik sind Schrott, vor allem Elektronikschrott. Vielleicht finden mich gleich die Schla. Und vielleicht vernichten sie dann alle meine Spuren, weil sie die künftige Harmonie ihrer Gemeinschaft stören könnten. Das wär's dann gewesen.
Dabei …
Wäre es nicht so unwahrscheinlich … Also ich bin über eine Wiese gerannt. Hinter mir eine Explosion. Wahnsinnige Schmerzen, als ob ich bis auf die Knochen glühen würde. Im ununterbrochenen Rennen, Stolpern, Hinfallen, wieder Aufstehen, Rennen muss ich mir den Schutzanzug heruntergerissen haben und die Unterkleidung gleich mit. Es fühlte sich an, als schälte ich mir die eigene Haut ab. Vielleicht bin ich auch danach noch weitergelaufen. Aber vor schreiendem Schmerz verlor ich wieder das Bewusstsein.
Dann war da die Vorstellung, ich sei ein Fisch mit glühenden Schuppen, versunken in Schmerz. Riesige Facettenaugen, die mich anstarrten, mich nach etwas zu fragen schienen, wovor mich die immer wieder schnell einsetzende Bewusstlosigkeit schützte.
Irgendwann hatte ich endlich das Gefühl, ich wachte aus diesen Albträumen auf. Ich merkte, ich lag weich und hatte wirklich geschlafen und nun war es Zeit, richtig aufzuwachen.
Angst. Nur nicht die Augen öffnen. Warum nur war ich so sicher, ich wäre erblindet? Diese Blitze, die Hitze, das war so furchtbar echt. Und etwas stimmte mit meiner Haut nicht. Sie juckte etwas und … sie musste verbrannt sein! Noch immer mit fest geschlossenen Augen begann ich Finger zu bewegen, die Füße, die Arme, die Knie anzuwinkeln. Hatte ich vielleicht alles nur geträumt? Keine der Bewegungen bereitete mir Schmerzen. Es war nur komisch an der Haut. Als wäre ich in ein Nachthemd aus Seilen eingewickelt.
In diesem Moment drangen Lichtstrahlen durch die geschlossenen Lider. Ganz kurz nur. Danach hatte ich den Eindruck, es wäre jemand neben mir. Genauer, es schienen zwei Jemande zu sein. Warum schwiegen sie mich an? Ich würde den Augenblick nicht endlos dehnen können und die Augen öffnen müssen.
Tat es und schloss sie sofort wieder. Mich begafften keine Menschen. Das waren … Menschenähnliche? Sagte man so? Ich sah zwei Köpfe vor mir, also eigentlich die Gesichter. Wenn ich mich nicht täuschte, dann standen zwei Wesen neben mir im Raum, beide insgesamt deutlich kleiner und zierlicher als Menschen. Ihre Köpfe aber …
Ich blinzelte, hoffentlich unauffällig. Das Gesicht unmittelbar vor mir konnte sogar das eines Mädchens sein. Zumindest hatten die Züge etwas Weiches. Es war im Prinzip alles da, was auch in einem Menschengesicht zu finden gewesen wäre. Nur war alles etwas zu groß geraten und wurde beherrscht von eben jenen Facettenaugen, die mir im Albtraum begegnet waren. Dagegen wären Froschaugen als schön durchgegangen. Wie kam ich eigentlich auf Facetten? Sicher war nur, dass sie nichts Menschlich-Schönes an sich hatten.
Dann kam der nächste Schock. Jenes Wesen, das ich für ein Mädchen hielt, gab Geräusche von sich. Es klang wie ein an- und abschwellendes Summen. Ich glaubte, lauter Ens und Ems aneinandergefügt zu hören. Das weiter hinten sitzende Wesen summte dem Mädchen etwas zu, woraufhin es noch betonter modulierte. Und endlich begriff ich: Das Mädchen hatte gesprochen und sprach schon wieder! In einer Sprache, die ich verstand! Nur mit einem extrem fremden Klang. „Ich bin Wroohn. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Wir Schla meinen es gut mit dir. Der See gab dir dein Leben wieder.“
Als sie noch einmal mit diesen Sätzen von vorn begann, murmelte ich: „Ich verstehe dich. Ich bin Jonathan, John, ein Mensch. Danke!“ Aber ich begriff nicht, wieso ich einfach so eine fremde Sprache beherrschte. Dass es nicht meine auf der Erde gelernte, sondern die hiesige war, war mir bewusst. Es war beängstigend: Ich konnte sie nicht verstehen können!
So wurde ich aufgenommen in die Gemeinde der Schla, wurde einer der ihren.
Das Schwerste war die Gewöhnung an ihre allgegenwärtige Hässlichkeit. Den zweiten Schla bekam ich zwar auch oft zu Gesicht. Die häufigste Kontaktperson der Schla aber war für mich diese Wroohn. Im Laufe der Zeit begriff ich, dass sie in einem Alter war, in dem die Gemeinschaft den Einzelnen ihre Partnerschaften empfahl. Bei mir sah diese Gemeinschaft eine besonders schwierige Partnerschaft voraus. Also hatte man der sehr einfühlsamen Wroohn nahegelegt, sich um mich zu kümmern. Ich mochte es kaum glauben, dass das Mädchen mich schon mehrere Wochen lang gepflegt hatte, dass sie mit jeder Kleinigkeit meines Körperbaus vertraut war. Nun, da ich zwar noch extrem schwach, aber schon ein munterer Mann war, dem dies leicht anzusehen und zu begreifen war, kam eine Veränderung hinzu. Es schien dem Mädchen großen Spaß zu bereiten, mich zu waschen und dabei eben jene Veränderung hervorzurufen. Als ich ihr erläuterte, dass dies das körperliche Zeichen zur Bereitschaft sei, sich mit einem weiblichen Wesen zu vereinen, stutzte sie. „Und das Zeichen kommt immer so schnell und so oft?“ „Wenn du so handfest damit umgehst, ja ...“ Da lachte sie und erklärte mir, dass die Schla-Männer eines bestimmten Duftreizes bedurften, der von den Frauen aber nur an wenigen Tagen ausginge.

Wir waren eine seltsame Partnerschaft. Dafür, dass ich mich schämte, wenn ich ihr so ausgeliefert war, ihren Blicken und ihrem Zugriff, hatte Wroohn keinen Draht. Und ich wagte keine Andeutung. Immer fürchtete ich, sie könnte mir anmerken, wie viel Abscheu ihr Äußeres als Schla-Mädchen bei mir weckte. Insofern war ich meiner Jugend dankbar, dass der Körper Wroohns zugreifende Reize so sichtbar positiv quittierte. Es war, als ob ich ihr laufend sagte, ich mag dich, und das Mädchen ahnte die Lüge - oder sagen wir das Einseitige - an dieser Äußerung nicht. ...

Im Heute das Morgen

Als sie in den Hörsaal gedrängt wurde, kam ihr, zum wievielten Mal schon, der Gedanke, sie sollte ihre Haare färben. Es war doch die natürlichste Sache der Welt. Ihre rötlichen Haare hoben sie aus der Masse heraus. Und genau das wollte sie nicht. Janara musste aufpassen, um nicht abgedrängt zu werden. Nein. Myra hielt zwei Plätze frei. Ganz oben. Für Peggy und sie. Mit Myra war jede Veranstaltung ein Erlebnis. Die fand immer etwas dazwischenzureden. Das lenkte ab. Aber die Semesterarbeit musste wenigstens ein „befriedigend“ bringen. Dann bekam sie die Anwesenheit für das Fach „Psychologische Probleme extraterrestrischer Lebensentwicklung“ bescheinigt. Mehr wollte Janara eigentlich nicht. Um im kommenden Jahr an einem College zu studieren, brauchte sie neben dem Notendurchschnitt, der kein Problem für sie war, den Beweis für ein thematisch breit entwickeltes Interesse. Möglichst viele Nebenfächer. Je mehr, umso besser. Extraterrestrische Lebensentwicklung interessierte sie nicht wirklich. Aber viele der Mitschüler fanden es schick. Da hatte sie die größte Chance, nachher noch ein paar Gedankengänge mit anderen zu vergleichen. Und diese Lesung war auf jeden Fall etwas Außergewöhnliches – nicht nur Myras Kommentare wegen. Da ließ sich ein Dozent der Akademie zweimal im Jahr für die Schüler ihrer unbedeutenden Kleinstadt dazu herab, vier Stunden Vortrag zu halten. Weil er hier geboren und tatsächlich schon im All gewesen war. Na, vielleicht hoffte er, so schneller einen eigenen Lehrstuhl zu bekommen.
Von ihren Plätzen hatten die Mädchen eine gute Übersicht. Janara versuchte, dieses unsinnige Gefühl wegzudrücken, gleich ginge eine Prüfung los. So also sah ein echter “altehrwürdiger” Hörsaal aus. Kein Computerkabinett mit Simultanarbeitsplätzen, sondern ein riesiger Raum mit Bänken, die aufsteigend angeordnet waren. Von den schätzungsweise 400 Sitzen waren inzwischen etwa 300 belegt und noch immer spuckten die beiden Doppeltüren schubsende Schüler in den Saal. Eigentlich war das eine ideale Gelegenheit. Wann konnte man sonst schon die Jungen beobachten, ohne dass die sich wie alberne Gockel benahmen,- HAST DU ABER SCHÖNE BLAUE AUGEN! Janara hätte es für ein gelungenes Kompliment gehalten, sich zumindest darüber gefreut, wenn es nicht so verdammt abgeschmackt und abgenutzt geklungen hätte. Diese Augen waren neben jenen rötlichen Haaren das auffälligste Erbstück von ihrer Mutter und die war auch jetzt noch eine aufregende Frau. Was andere Mädchen mit extra eingesetzten Haftschalen zu imitieren versuchten, war bei Janara Natur: Ihre Iris gab im Normalfall einen ungewöhnlich breiten Kreis hellblau leuchtenden Himmels preis. Aber wahrscheinlich hielten es eben alle für künstlich. Es war so “in”, dass Janara schon an grüne Haftschalen gedacht hatte. Die passten auch zu ihren Haaren.
Noch drei Minuten. Jener legendäre George Buckinns stand schon vorn neben dem Pult. Offensichtlich nervös spielte er am Beamer herum. Wunderbar: Der würde also Zusammenfassung und Struktur des Vortrags an die Wand werfen. Janara brauchte nur Fotos zu machen und sich ein paar spezielle Ausdrücke des Dozenten zu notieren.
Eigentlich war der Typ … Janara hätte nicht sagen können, was sie von dem Mann halten sollte. Irgendwie … Fast glaubte sie, schon einmal von ihm geträumt zu haben, und eine entsprechende Bemerkung lag ihr bereits auf den Lippen, aber in Gedanken hörte sie Myras abfällige Antwort “Der und Traummann? Nun übertreib mal nicht!” Janara schüttelte unmerklich den Kopf. Sie wusste, sie hätte geantwortet, antworten müssen, dass sie es ja nicht so meine. Aber wie dann? Besser, sie ließ sich nichts anmerken.
Für einen, der schon eine Interstellarreise und erste Jahre an der Raumakademie hinter sich hatte, sah er extrem jung aus. Anfang 40 vielleicht. Jünger als Dad. Das war wahrscheinlich den Kälteschlafphasen geschuldet, die er durchlaufen hatte. Er hatte seinen Flug zu einer Zeit angetreten, als die Astronauten zum ersten Mal ihre Schlafsärge im Wechsel selbst einstellen durften. Sieben Frauen, sieben Männer. Keine Paare am Anfang. Ob sie sich fanden, ergab sich erst in der Gemeinschaft des Fluges. Zufälle. Denn sie hatten sich geeinigt, dass immer nur zwei bis drei Besatzungsmitglieder den irdischen Wechsel von Tag und Nacht simulierten, den Flug überwachten. Es konnte also Jahre dauern, bis die eine den oder die anderen fand, die besonders mit ihr harmonierten. Dass das Team theoretisch gut harmonieren würde, hatten Tests an dafür entworfenen Geräten ihnen bescheinigt. Man hatte sie auf eine Reise von etwa 20 Jahren im Wachzustand und einen allgemeinen 100jährigen „Dornröschenschlaf“ eingestimmt. Da gehörte es zum Programm, sich gegenseitig zu testen, zu harmonisieren oder zu verwerfen. Es konnte ja sein, dass sonst absolut nichts als Routinen abgearbeitet werden konnten, die auch Automaten hätten bewältigen können. Ihr Hauptziel war es, das Programm zur automatischen Erkennung von Lebensformen zu testen. Was nutzten denn Sonden, deren Untersuchungsprogramme unter Umständen einen Mangel enthielten, so dass sie entweder lauter Zivilisationen meldeten oder an Planeten vorbeiflogen, die vielleicht eine zweite Erde waren oder werden konnten? Sicher konnte man nur sein, wenn man die Untersuchungsergebnisse vor Ort verglich. Aber die Entfernung von einem Untersuchungsobjekt bis zum nächsten sei eben astronomisch ...
Eigentlich erzählte er ganz interessant. Er schien auch nicht so ein ichbezogener Schnösel zu sein. Seine Vorstellung hatte er auf den Namen beschränkt und sich Spielereien um sein Alter verkniffen. Wenn man seine Kälteschlafzeiten und die durchschnittliche Fluggeschwindigkeit bei interstellaren Flügen mitrechnete, dann war er wohl ein echtes lebendes Fossil.

Interessant, ja, auch, aber … Janara hätte nicht sagen können, warum sie trotz allem nur mit halbem Ohr auf das achtete, was der Mann vorn sprach. Irgendetwas schien um sie herum zu knistern und sie darauf einzustellen, dass das Wesentliche des Tages noch kommen würde ...

Sonntag, 1. September 2013

Slov ant Gali: Der lebende See

Erinnerung? Nein. Eine Katastrophe? Ja. Blitze ... Bilder ohne Davor und Danach. Fürs Logbuch nicht verwendbar. Zu viele Lücken. Ich kann sie nicht füllen.
Sollten irgendwann Menschen nach Spuren unseres Untergangs auf diesem Planeten suchen, dann finden sie hoffentlich die Trümmer des Raumschiffs. Wenn sie die untersuchen, werden sie hoffentlich rekonstruieren können, was passiert ist. Zum technischen Versagen hätte ich sowieso fast nichts schreiben können … selbst wenn ich das Logbuch noch fände. Wahrscheinlich traf mich bereits beim Eintritt in die Atmosphäre ein Stoß, der mir das Bewusstsein nahm. Vielleicht hat mir genau das das Leben gerettet. Jedenfalls weiß ich nicht, was die anderen unternommen haben, bin aber sicher, dass sie nicht mehr am Leben sind. Mindestens einer von ihnen hat mich offenbar gerettet. Bei den ersten Bildern in meiner Erinnerung renne ich wie ein Wahnsinniger. Mein Raumanzug steht in Flammen und die Hitze dringt durch und im Laufen versuche ich, ihn auszuziehen, das Feuer abzustreifen. Wie ich auf die Idee kam, hinter mir gäbe es gleich eine Explosion und ich würde nur überleben, wenn ich dann weit genug weg wäre, weiß ich nicht. Auf keinem dieser Erinnerungsbilder trägt oder stützt mich jemand, aber allein kann ich eigentlich nicht aus dem Raumschiff herausgekommen sein. Ich habe ja gerade erst entdeckt, dass das Raumschiff nicht im Orbit geblieben ist, also keine Landekapsel eingesetzt worden ist. Alle heimlichen Hoffnungen auf schnelle Rettung vom Schiff im Orbit waren also von Anfang an unbegründet. Ich bin doch nur ein Mensch mit Hoffnung bis zum Schluss, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass man noch nach uns sucht und wenigstens andere Erkunder so rechtzeitig auf diesen Planeten stoßen, dass diese Aufzeichnungen noch gelesen werden können. Ich weiß ja nicht einmal, ob meine Sprache wirklich aufgezeichnet wird, weil die Wiedergabe nicht funktioniert. Der kleine Monitor zeigt Kurven, als sei alles in Ordnung. Sonst ist fast alles zertrümmert. Die Wunderwerke menschlicher Technik sind Schrott, vor allem Elektronikschrott. Vielleicht finden mich gleich die Schla. Und vielleicht vernichten sie dann alle meine Spuren, weil sie die künftige Harmonie ihrer Gemeinschaft stören könnten. Das wär's dann gewesen.
Dabei …
Wäre es nicht so unwahrscheinlich … Also ich bin über eine Wiese gerannt. Hinter mir eine Explosion. Wahnsinnige Schmerzen, als ob ich bis auf die Knochen glühen würde. Im ununterbrochenen Rennen, Stolpern, Hinfallen, wieder Aufstehen, Rennen muss ich mir den Schutzanzug heruntergerissen haben und die Unterkleidung gleich mit. Es fühlte sich an, als schälte ich mir die eigene Haut ab. Vielleicht bin ich auch danach noch weitergelaufen. Aber vor schreiendem Schmerz verlor ich wieder das Bewusstsein.
Dann war da die Vorstellung, ich sei ein Fisch mit glühenden Schuppen, versunken in Schmerz. Riesige Facettenaugen, die mich anstarrten, mich nach etwas zu fragen schienen, wovor mich die immer wieder schnell einsetzende Bewusstlosigkeit schützte.
Irgendwann hatte ich endlich das Gefühl, ich wachte aus diesen Albträumen auf. Ich merkte, ich lag weich und hatte wirklich geschlafen und nun war es Zeit, richtig aufzuwachen.
Angst. Nur nicht die Augen öffnen. Warum nur war ich so sicher, ich wäre erblindet? Diese Blitze, die Hitze, das war so furchtbar echt. Und etwas stimmte mit meiner Haut nicht. Sie juckte etwas und … sie musste verbrannt sein! Noch immer mit fest geschlossenen Augen begann ich Finger zu bewegen, die Füße, die Arme, die Knie anzuwinkeln. Hatte ich vielleicht alles nur geträumt? Keine der Bewegungen bereitete mir Schmerzen. Es war nur komisch an der Haut. Als wäre ich in ein Nachthemd aus Seilen eingewickelt.
In diesem Moment drangen Lichtstrahlen durch die geschlossenen Lider. Ganz kurz nur. Danach hatte ich den Eindruck, es wäre jemand neben mir. Genauer, es schienen zwei Jemande zu sein. Warum schwiegen sie mich an? Ich würde den Augenblick nicht endlos dehnen können und die Augen öffnen müssen.
Tat es und schloss sie sofort wieder. Mich begafften keine Menschen. Das waren … Menschenähnliche? Sagte man so? Ich sah zwei Köpfe vor mir, also eigentlich die Gesichter. Wenn ich mich nicht täuschte, dann standen zwei Wesen neben mir im Raum, beide insgesamt deutlich kleiner und zierlicher als Menschen. Ihre Köpfe aber …
Ich blinzelte, hoffentlich unauffällig. Das Gesicht unmittelbar vor mir konnte sogar das eines Mädchens sein. Zumindest hatten die Züge etwas Weiches. Es war im Prinzip alles da, was auch in einem Menschengesicht zu finden gewesen wäre. Nur war alles etwas zu groß geraten und wurde beherrscht von eben jenen Facettenaugen, die mir im Albtraum begegnet waren. Dagegen wären Froschaugen als schön durchgegangen. Wie kam ich eigentlich auf Facetten? Sicher war nur, dass sie nichts Menschlich-Schönes an sich hatten.
Dann kam der nächste Schock. Jenes Wesen, das ich für ein Mädchen hielt, gab Geräusche von sich. Es klang wie ein an- und abschwellendes Summen. Ich glaubte, lauter Ens und Ems aneinandergefügt zu hören. Das weiter hinten sitzende Wesen summte dem Mädchen etwas zu, woraufhin es noch betonter modulierte. Und endlich begriff ich: Das Mädchen hatte gesprochen und sprach schon wieder! In meiner Sprache! Nur mit einem extrem fremden Klang. „Ich bin Wroohn. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Wir Schla meinen es gut mit dir. Der See gab dir dein Leben wieder.“
Als sie noch einmal mit diesen Sätzen von vorn begann, murmelte ich: „Ich verstehe dich. Ich bin Jonathan, John, ein Mensch. Danke!“
So wurde ich aufgenommen in die Gemeinde der Schla, wurde einer der ihren.

Das Schwerste war die Gewöhnung an ihre allgegenwärtige Hässlichkeit. ...

Slov ant Gali: Im Heute das Morgen


Als sie in den Hörsaal gedrängt wurde, kam ihr, zum wievielten Mal schon, der Gedanke, sie sollte ihre Haare färben. Es war doch die natürlichste Sache der Welt. Ihre rötlichen Haare hoben sie aus der Masse heraus. Und genau das wollte sie nicht. Janara musste aufpassen, um nicht abgedrängt zu werden. Nein. Myra hielt zwei Plätze frei. Ganz oben. Für Peggy und sie. Mit Myra war jede Veranstaltung ein Erlebnis. Die fand immer etwas dazwischenzureden. Das lenkte ab. Aber die Semesterarbeit musste wenigstens ein „befriedigend“ bringen. Dann bekam sie die Anwesenheit für das Fach „Psychologische Probleme extraterrestrischer Lebensentwicklung“ bescheinigt. Mehr wollte Janara eigentlich nicht. Um im kommenden Jahr an einem College zu studieren, brauchte sie neben dem Notendurchschnitt, der kein Problem für sie war, den Beweis für ein thematisch breit entwickeltes Interesse. Möglichst viele Nebenfächer. Je mehr, umso besser. Extraterrestrische Lebensentwicklung interessierte sie nicht wirklich. Aber viele der Mitschüler fanden es schick. Da hatte sie die größte Chance, nachher noch ein paar Gedankengänge mit anderen zu vergleichen. Und diese Lesung war auf jeden Fall etwas Außergewöhnliches – nicht nur Myras Kommentare wegen. Da ließ sich ein Dozent der Akademie zweimal im Jahr für die Schüler ihrer unbedeutenden Kleinstadt dazu herab, vier Stunden Vortrag zu halten. Weil er hier geboren und tatsächlich schon im All gewesen war. Na, vielleicht hoffte er, so schneller einen eigenen Lehrstuhl zu bekommen.
Von ihren Plätzen hatten die Mädchen eine gute Übersicht. Janara versuchte, dieses unsinnige Gefühl wegzudrücken, gleich ginge eine Prüfung los. So also sah ein echter “altehrwürdiger” Hörsaal aus. Kein Computerkabinett mit Simultanarbeitsplätzen, sondern ein riesiger Raum mit Bänken, die aufsteigend angeordnet waren. Von den schätzungsweise 400 Sitzen waren inzwischen etwa 300 belegt und noch immer spuckten die beiden Doppeltüren schubsende Schüler in den Saal. Eigentlich war das eine ideale Gelegenheit. Wann konnte man sonst schon die Jungen beobachten, ohne dass die sich wie alberne Gockel benahmen,- HAST DU ABER SCHÖNE BLAUE AUGEN! Janara hätte es für ein gelungenes Kompliment gehalten, sich zumindest darüber gefreut, wenn es nicht so verdammt abgeschmackt und abgenutzt geklungen hätte. Diese Augen waren neben jenen rötlichen Haaren das auffälligste Erbstück von ihrer Mutter und die war auch jetzt noch eine aufregende Frau. Was andere Mädchen mit extra eingesetzten Haftschalen zu imitieren versuchten, war bei Janara Natur: Ihre Iris gab im Normalfall einen ungewöhnlich breiten Kreis hellblau leuchtenden Himmels preis. Aber wahrscheinlich hielten es eben alle für künstlich. Es war so “in”, dass Janara schon an grüne Haftschalen gedacht hatte. Die passten auch zu ihren Haaren.
Noch drei Minuten. Jener legendäre George Buckinns stand schon vorn neben dem Pult. Offensichtlich nervös spielte er am Beamer herum. Wunderbar: Der würde also Zusammenfassung und Struktur des Vortrags an die Wand werfen. Janara brauchte nur Fotos zu machen und sich ein paar spezielle Ausdrücke des Dozenten zu notieren.
Eigentlich war der Typ … Janara hätte nicht sagen können, was sie von dem Mann halten sollte. Irgendwie … Fast glaubte sie, schon einmal von ihm geträumt zu haben, und eine entsprechende Bemerkung lag ihr bereits auf den Lippen, aber in Gedanken hörte sie Myras abfällige Antwort “Der und Traummann? Nun übertreib mal nicht!” Janara schüttelte unmerklich den Kopf. Sie wusste, sie hätte geantwortet, antworten müssen, dass sie es ja nicht so meine. Aber wie dann? Besser, sie ließ sich nichts anmerken.

Für einen, der schon eine Interstellarreise und erste Jahre an der Raumakademie hinter sich hatte, sah er extrem jung aus. Anfang 40 vielleicht. Jünger als Dad. Das war wahrscheinlich den Kälteschlafphasen geschuldet, die er durchlaufen hatte. Er hatte seinen Flug zu einer Zeit angetreten, als die Astronauten zum ersten Mal ihre Schlafsärge im Wechsel selbst einstellen durften. Sieben Frauen, sieben Männer. Keine Paare am Anfang. Ob sie sich fanden, ergab sich erst in der Gemeinschaft des Fluges. Zufälle. Denn sie hatten sich geeinigt, dass immer nur zwei bis drei Besatzungsmitglieder den irdischen Wechsel von Tag und Nacht simulierten, den Flug überwachten. Es konnte also Jahre dauern, bis die eine den oder die anderen fand, die besonders mit ihr harmonierten. Dass das Team theoretisch gut harmonieren würde, hatten Tests an dafür entworfenen Geräten ihnen bescheinigt. Man hatte sie auf eine Reise von etwa 20 Jahren im Wachzustand und einen allgemeinen 100jährigen „Dornröschenschlaf“ eingestimmt. Da gehörte es zum Programm, sich gegenseitig zu testen, zu harmonisieren oder zu verwerfen. Es konnte ja sein, dass sonst absolut nichts als Routinen abgearbeitet werden konnten, die auch Automaten hätten bewältigen können. Ihr Hauptziel war es, das Programm zur automatischen Erkennung von Lebensformen zu testen. Was nutzten denn Sonden, deren Untersuchungsprogramme unter Umständen einen Mangel enthielten, so dass sie entweder lauter Zivilisationen meldeten oder an Planeten vorbeiflogen, die vielleicht eine zweite Erde waren oder werden konnten? Sicher konnte man nur sein, wenn man die Untersuchungsergebnisse vor Ort verglich. Aber die Entfernung von einem Untersuchungsobjekt bis zum nächsten sei eben astronomisch ...

Kinder


(1)
Claudia heulte hemmungslos. Längst war aller Zellstoff aufgebraucht. Nimm dich endlich zusammen, meinte die eine innere Stimme - wozu denn, antwortete die andere, es sieht ja keiner.
Aber du musst Martin endlich antworten!
Es hat sowieso keinen Sinn mehr.
Martin hatte Claudia vor neun Monaten kontaktiert. Da blinzelte sie noch als ungewöhnlich attraktive 15-Jährige in die Webcam. Mit ausgestopftem Bikinioberteil unter dem hautengen Top. Martin fragte prompt danach und sie verkündte stolz: „75 C ...“ Früher zumindest hieß das so. „Gefällt´s dir?“ Was blödelten sie danach herum! Martin war ein Glücksfall. Er sah richtig scharf aus, ein Typ, dem die Mädchen garantiert hinterherliefen, zugleich aber wirkte er schon bei ihrem ersten „internetten“ Aufeinandertreffen überraschend reif trotz seiner 15. Verständig. Nicht so wie die Jungen, denen Claudia bis dahin begegnet war. Vielleicht …
Nein, es war besser, dass sie sich nicht wirklich nahe gekommen waren. Viel Zeit war ihr nicht mehr geblieben. Jeden Morgen suchte sie sich ängstlich nach Symptomen der Krankheit ab. Dann hatte sie die ersten Zeichen entdeckt. Sie unterbrach die Bildverbindung. Irgendetwas an dem Programm funktioniere nicht. „... Keine Ahnung was. Vielleicht ein Problem mit unserem Netzanbieters. Reklamation ist raus … aber ob jemand sie bearbeitet ...“ Wenn Martin sie wieder sehen könne, wolle sie ihn auch wieder sehen.
Seitdem chatteten sie wie in der Anfangszeit des Internets. Der eine schrieb, verschickte seinen Text und wartete auf die Antwort des anderen. Die Handynetze waren ja längst zusammengebrochen.
Später dann kam es Claudia vor, als alterte sie mit jedem Tag um ein Jahr. Sie übertrieb natürlich. Sie wäre dann ja schon 280 Jahre alt und das hatte es selbst in den besten Zeiten nicht gegeben. Aber kam sie sich mitunter nicht so vor?
Hätte sie Martin nicht doch einweihen, ihm zum Beispiel damals schreiben sollen, als sie sich das erste Mal nicht mehr die Zehennägel lackieren konnte? Weil sie nicht mehr dort unten ankam? Vor Schmerz hätte brüllen mögen? Bei aller Vernunft … Martin war doch nur ein Junge … was verstand der von gesund glänzenden Nägeln und dem Ekel, den ihre Füße jetzt bei ihr auslösten?
Immerhin konnte sie sich mit ihm über Bücher austauschen. Er las selbst noch richtige, verstand, was drin stand, diese Probleme von Greisen, die viel älter geworden waren als 30 Jahre. Er hörte ihr zu, wenn sie ihm von Sanne und Tim erzählte. Obwohl er gar keine Geschwister hatte und seine Bekannten auch nicht. Aber er gab sich große Mühe, ihr Tipps zu geben, worin sie die beiden unterrichten sollte und wie. Richtig gute sogar. In der Schule wäre Martin bestimmt Spitze gewesen und Lehrer geworden, vielleicht. Er lernte gerade Gitarre. Das wär was für Sanne. Sanne brauchte unbedingt Sexualkundeunterricht. Tim war zwar nur 15 Monate jünger als Sanne, aber er zeigte glücklicherweise noch kein Interesse an solchen Dingen. Wie sollte Claudia das alles einer Neunjährigen erklären? Sanne sollte doch Bescheid wissen. Oder lieber noch nicht?
Sannes Blicke waren Claudia manchmal richtig unheimlich. Eiskalt lief es ihr den Rücken herunter. „Kann sein, die weiß schon alles. Alles, verstehst du, Martin“, hatte sie geschrieben … „...alles …“
Darauf war Martin nicht eingegangen.
Ach Martin …
Es ist bestimmt besser, dass du mich so … wieder schluchzte Claudia auf … so sexy in Erinnerung behältst. Was ist das schon für ein Leben? Sie trug inzwischen einen ganzen Millimeter Farbcreme auf, um noch als Frau wahrgenommen zu werden und nicht als Greisin. Obwohl … in den letzten Wochen war Claudia überhaupt nicht mehr draußen gewesen. Längst erledigte Sanne alles, wozu man raus musste. Einkaufen und so. Sanne blieb in letzter Zeit lange draußen weg. Wenn Claudia fragte, wie sie zum Beispiel zu dem frischen Gemüse gekommen war, lächelte sie nur still wissend in sich hinein. Wie viel wusste sie vom Leben? Zu viel, bestimmt zu viel!
War das seltsam. Nicht einmal erwähnte Martin ihr gegenüber die Krankheit. Obwohl es doch nichts Wichtigeres gab auf der Welt. Alle redeten von ihr. Ahnte er, warum auch sie das Thema umging?

Ganz plötzlich wurde es Claudia bewusst. Martin war doch im selben Alter. Vielleicht klemmte, seit sie sich nur noch schriftlich verständigten, ein Foto von ihr an seinem Monitor. ...


... 

… mit einem unnützen Mädchen

Es war der 25. November. Es war kein besonderer Tag und ich schlief. Was ich noch nicht wusste: Meinen Computerwecker hatte man bei null Uhr angehalten und meine Nummer für fakultativen Service existierte nicht mehr.

Auch Tanja schlief. Sie war in der Nacht aus ihrem Bett gestiegen und die paar Schritte barfuß zu mir getapst. Ich hatte ihr wie immer etwas Beruhigendes entgegengebrummt und sie an mich gezogen. Dass die Luft da schon auf 15 Grad abgekühlt war, war uns beiden nicht aufgefallen. Auch der Sauerstoffgehalt war vermutlich erst wenig abgesunken.

Tanja war das dritte in meinem Bauch gewachsene Kind. Bei mir war seinerzeit nur die Leihmutterschaft als Gelderwerb in Betracht gekommen. Ich vermochte mich immerhin gewählt auszudrücken, hinterließ einen zuverlässigen und zugleich gebildeten Eindruck. So hatte meine Arbeit Erfolg versprechend mit der Übergabe zweier Jungen begonnen. Die vermögenden Auftraggeberfamilien waren mit mir zufrieden. Die Trockenbaums versprachen sogar, mich später unsterblich zu machen. Natürlich kamen sie nachher nicht wieder darauf zurück. Man verspricht ja sehr viel im Moment besonders großer Freude. Das nächste Baby wurde dann aber früh als werdendes Mädchen identifiziert. Das aber hatte der Vertrag ausgeschlossen. Ich sollte abtreiben. Für Mädchen bedürfe es ja wohl keiner althergebrachten Schwangerschaft. Ich hatte mich geweigert, war deshalb für meinen Beruf untragbar geworden und kümmerte lange so vor mich hin, immer hart an der Grenze, vom Netz genommen, abgeschaltet, gelöscht zu werden. Wie soll man Vulgärexistenzen wie mich verwerten? Allein in den illegalen Survivalzonen hätte keiner danach gefragt. Dort überlebten angeblich einige Outsider ohne Servicenummer und Chips und all das Zeug, das bewies, dass man – wenn auch nur für begrenzte Zeit – existierte.

Richtige, eben unsterbliche Existenz steht nur einer vermögenden Elite zu. Ihrer von Natur aus mangelhaft konstruierten Körper ledig sehen sich diese Menschen dann über Neuronennetzanschlüsse permanent durch nach den eigenen Wünschen ausgestaltete Landschaften laufen. Sie schmecken die edelsten Speisen, ohne wirklich essen zu müssen und sie genießen die traumhaftesten Partner – ohne jeden störenden Ärger. Ansonsten ändert sich nichts. Großrechnersysteme optimieren alle ihre Lebensfunktionen normalerweise auch schon in der Vulgärexistenz, nur …
Ich hätte gern weiter geträumt, aber Tanja stößt mir ihren Ellenbogen zwischen die Rippen. Etwas stimmt nicht. Irgendetwas ist anders als sonst. Nur was? Grübeln ist sinnlos. Gerade dann, wenn ich etwas unbedingt schaffen will, habe ich so eine totale Denkblockade. Ich komme nicht auf die einfachste Lösung. Da hilft nur, etwas ganz Anderes zu tun oder denken. Aber wieder einschlafen? … Ob ich es versuchen sollte?
Ich blinzele. Tanja hat sich halb aufgedeckt. Ich decke sie zu und schleiche ins Bad, komme aber nicht dazu, mir in Ruhe die Zähne zu putzen. Tanja steht in der Tür. Sie hält sich die linke Hand über die Augen und quäkt “Warum läuft denn gar keine Musik?”
Das also ist es – das ewige leise Berieseln mit harmonischen Klängen fehlt. Ich laufe ins Wohnzimmer. Gespenstische Stille, der Monitor dunkel, kein grünes Signallicht am Tower. Ich drücke halb verärgert, halb verängstigt den großen schwarzen Knopf. Auf dem Bildschirm erscheinen drei überdimensionale Ausrufezeichen. Als hätten sie nur darauf gewartet, dass ich sie anstarre, lösen sie sich auf. An ihrer Stelle macht sich ein Schriftzug auf dem ganzen Monitor breit: “Sie haben die vorausgegangenen automatischen Warnungen nicht ernst genommen.” 
Tanja ist hinter mich getreten. “Is was, Mama?” — “Nein, nein.” 

Wie, um mich Lügen zu strafen, kommt die nächste Meldung. “Sie haben seit sieben Tagen Ihr genehmigtes Limit überschritten. Gleichen Sie innerhalb der nächsten 72 Stunden Ihr Konto aus! Sollten Sie diese Chance bis zum 28. November, 0.00 Uhr, missachten, wird auch Ihr restlicher Nutzercode gelöscht. Alle Schaltfunktionen verbleiben dann in ihrer jeweiligen Stellung. Wäre diese mit einem Verbrauch verbunden, wird sie auf Null korrigiert. Sie existieren dann nicht mehr. Die Entsorgung Ihrer Überreste vereinbaren Sie bitte jetzt mit einer der zuständigen Firmen. Wählen Sie nach Betätigung des OK-Buttons eine aus!”
...