Donnerstag, 19. September 2013

Der lebende See

Erinnerung? Nein. Eine Katastrophe? Ja. Blitze ... Bilder ohne Davor und Danach. Fürs Logbuch nicht verwendbar. Zu viele Lücken. Ich kann sie nicht füllen.
Sollten irgendwann Menschen nach Spuren unseres Untergangs auf diesem Planeten suchen, dann finden sie hoffentlich die Trümmer des Raumschiffs. Wenn sie die untersuchen, werden sie hoffentlich rekonstruieren können, was passiert ist. Zum technischen Versagen hätte ich sowieso fast nichts schreiben können … selbst wenn ich das Logbuch noch fände. Wahrscheinlich traf mich bereits beim Eintritt in die Atmosphäre ein Stoß, der mir das Bewusstsein nahm. Vielleicht hat mir genau das das Leben gerettet. Jedenfalls weiß ich nicht, was die anderen unternommen haben, bin aber sicher, dass sie nicht mehr am Leben sind. Mindestens einer von ihnen hat mich offenbar gerettet. Bei den ersten Bildern in meiner Erinnerung renne ich wie ein Wahnsinniger. Mein Raumanzug steht in Flammen und die Hitze dringt durch und im Laufen versuche ich, ihn auszuziehen, das Feuer abzustreifen. Wie ich auf die Idee kam, hinter mir gäbe es gleich eine Explosion und ich würde nur überleben, wenn ich dann weit genug weg wäre, weiß ich nicht. Auf keinem dieser Erinnerungsbilder trägt oder stützt mich jemand, aber allein kann ich eigentlich nicht aus dem Raumschiff herausgekommen sein. Ich habe ja gerade erst entdeckt, dass das Raumschiff nicht im Orbit geblieben ist, also keine Landekapsel eingesetzt worden ist. Alle heimlichen Hoffnungen auf schnelle Rettung vom Schiff im Orbit waren also von Anfang an unbegründet. Ich bin doch nur ein Mensch mit Hoffnung bis zum Schluss, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass man noch nach uns sucht und wenigstens andere Erkunder so rechtzeitig auf diesen Planeten stoßen, dass diese Aufzeichnungen noch gelesen werden können. Ich weiß ja nicht einmal, ob meine Sprache wirklich aufgezeichnet wird, weil die Wiedergabe nicht funktioniert. Der kleine Monitor zeigt Kurven, als sei alles in Ordnung. Sonst ist fast alles zertrümmert. Die Wunderwerke menschlicher Technik sind Schrott, vor allem Elektronikschrott. Vielleicht finden mich gleich die Schla. Und vielleicht vernichten sie dann alle meine Spuren, weil sie die künftige Harmonie ihrer Gemeinschaft stören könnten. Das wär's dann gewesen.
Dabei …
Wäre es nicht so unwahrscheinlich … Also ich bin über eine Wiese gerannt. Hinter mir eine Explosion. Wahnsinnige Schmerzen, als ob ich bis auf die Knochen glühen würde. Im ununterbrochenen Rennen, Stolpern, Hinfallen, wieder Aufstehen, Rennen muss ich mir den Schutzanzug heruntergerissen haben und die Unterkleidung gleich mit. Es fühlte sich an, als schälte ich mir die eigene Haut ab. Vielleicht bin ich auch danach noch weitergelaufen. Aber vor schreiendem Schmerz verlor ich wieder das Bewusstsein.
Dann war da die Vorstellung, ich sei ein Fisch mit glühenden Schuppen, versunken in Schmerz. Riesige Facettenaugen, die mich anstarrten, mich nach etwas zu fragen schienen, wovor mich die immer wieder schnell einsetzende Bewusstlosigkeit schützte.
Irgendwann hatte ich endlich das Gefühl, ich wachte aus diesen Albträumen auf. Ich merkte, ich lag weich und hatte wirklich geschlafen und nun war es Zeit, richtig aufzuwachen.
Angst. Nur nicht die Augen öffnen. Warum nur war ich so sicher, ich wäre erblindet? Diese Blitze, die Hitze, das war so furchtbar echt. Und etwas stimmte mit meiner Haut nicht. Sie juckte etwas und … sie musste verbrannt sein! Noch immer mit fest geschlossenen Augen begann ich Finger zu bewegen, die Füße, die Arme, die Knie anzuwinkeln. Hatte ich vielleicht alles nur geträumt? Keine der Bewegungen bereitete mir Schmerzen. Es war nur komisch an der Haut. Als wäre ich in ein Nachthemd aus Seilen eingewickelt.
In diesem Moment drangen Lichtstrahlen durch die geschlossenen Lider. Ganz kurz nur. Danach hatte ich den Eindruck, es wäre jemand neben mir. Genauer, es schienen zwei Jemande zu sein. Warum schwiegen sie mich an? Ich würde den Augenblick nicht endlos dehnen können und die Augen öffnen müssen.
Tat es und schloss sie sofort wieder. Mich begafften keine Menschen. Das waren … Menschenähnliche? Sagte man so? Ich sah zwei Köpfe vor mir, also eigentlich die Gesichter. Wenn ich mich nicht täuschte, dann standen zwei Wesen neben mir im Raum, beide insgesamt deutlich kleiner und zierlicher als Menschen. Ihre Köpfe aber …
Ich blinzelte, hoffentlich unauffällig. Das Gesicht unmittelbar vor mir konnte sogar das eines Mädchens sein. Zumindest hatten die Züge etwas Weiches. Es war im Prinzip alles da, was auch in einem Menschengesicht zu finden gewesen wäre. Nur war alles etwas zu groß geraten und wurde beherrscht von eben jenen Facettenaugen, die mir im Albtraum begegnet waren. Dagegen wären Froschaugen als schön durchgegangen. Wie kam ich eigentlich auf Facetten? Sicher war nur, dass sie nichts Menschlich-Schönes an sich hatten.
Dann kam der nächste Schock. Jenes Wesen, das ich für ein Mädchen hielt, gab Geräusche von sich. Es klang wie ein an- und abschwellendes Summen. Ich glaubte, lauter Ens und Ems aneinandergefügt zu hören. Das weiter hinten sitzende Wesen summte dem Mädchen etwas zu, woraufhin es noch betonter modulierte. Und endlich begriff ich: Das Mädchen hatte gesprochen und sprach schon wieder! In einer Sprache, die ich verstand! Nur mit einem extrem fremden Klang. „Ich bin Wroohn. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Wir Schla meinen es gut mit dir. Der See gab dir dein Leben wieder.“
Als sie noch einmal mit diesen Sätzen von vorn begann, murmelte ich: „Ich verstehe dich. Ich bin Jonathan, John, ein Mensch. Danke!“ Aber ich begriff nicht, wieso ich einfach so eine fremde Sprache beherrschte. Dass es nicht meine auf der Erde gelernte, sondern die hiesige war, war mir bewusst. Es war beängstigend: Ich konnte sie nicht verstehen können!
So wurde ich aufgenommen in die Gemeinde der Schla, wurde einer der ihren.
Das Schwerste war die Gewöhnung an ihre allgegenwärtige Hässlichkeit. Den zweiten Schla bekam ich zwar auch oft zu Gesicht. Die häufigste Kontaktperson der Schla aber war für mich diese Wroohn. Im Laufe der Zeit begriff ich, dass sie in einem Alter war, in dem die Gemeinschaft den Einzelnen ihre Partnerschaften empfahl. Bei mir sah diese Gemeinschaft eine besonders schwierige Partnerschaft voraus. Also hatte man der sehr einfühlsamen Wroohn nahegelegt, sich um mich zu kümmern. Ich mochte es kaum glauben, dass das Mädchen mich schon mehrere Wochen lang gepflegt hatte, dass sie mit jeder Kleinigkeit meines Körperbaus vertraut war. Nun, da ich zwar noch extrem schwach, aber schon ein munterer Mann war, dem dies leicht anzusehen und zu begreifen war, kam eine Veränderung hinzu. Es schien dem Mädchen großen Spaß zu bereiten, mich zu waschen und dabei eben jene Veränderung hervorzurufen. Als ich ihr erläuterte, dass dies das körperliche Zeichen zur Bereitschaft sei, sich mit einem weiblichen Wesen zu vereinen, stutzte sie. „Und das Zeichen kommt immer so schnell und so oft?“ „Wenn du so handfest damit umgehst, ja ...“ Da lachte sie und erklärte mir, dass die Schla-Männer eines bestimmten Duftreizes bedurften, der von den Frauen aber nur an wenigen Tagen ausginge.

Wir waren eine seltsame Partnerschaft. Dafür, dass ich mich schämte, wenn ich ihr so ausgeliefert war, ihren Blicken und ihrem Zugriff, hatte Wroohn keinen Draht. Und ich wagte keine Andeutung. Immer fürchtete ich, sie könnte mir anmerken, wie viel Abscheu ihr Äußeres als Schla-Mädchen bei mir weckte. Insofern war ich meiner Jugend dankbar, dass der Körper Wroohns zugreifende Reize so sichtbar positiv quittierte. Es war, als ob ich ihr laufend sagte, ich mag dich, und das Mädchen ahnte die Lüge - oder sagen wir das Einseitige - an dieser Äußerung nicht. ...

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